Wenn man das erste Mal vor einem Felsbrocken an der Nagelfluhkette steht, glaubt man fast an einen Streich. Das sieht nicht aus wie solider Fels, wie Granit oder Kalkstein, den man sonst aus den Alpen kennt. Es sieht aus, als hätte ein Riese den Inhalt eines gigantischen Flussbettes genommen, ordentlich Zement drübergekippt und das Ganze dann ein paar Kilometer in die Höhe gedrückt. Geologen nennen das Konglomerat, der Volksmund sagt treffend "Herrgottsbeton". Und genau dieses Material macht die Überschreitung der Nagelfluhkette im Oberallgäu so einzigartig. Es ist keine glatte Angelegenheit. Der Fels ist griffig, manchmal bröselig, immer faszinierend strukturiert. Man läuft quasi auf dem Schutt der Ur-Alpen, der vor Äonen von Flüssen hier abgelagert und später durch tektonischen Druck wieder aufgefaltet wurde. Das Ergebnis ist ein Gebirgskamm, der im Alpenraum seinesgleichen sucht: steile Nordwände, sanftere, oft begrünte Südhänge und oben drauf ein Grat, der mal breit wie ein Boulevard, mal schmal wie ein Handtuch ist.
Die Nagelfluhkette ist Teil des Naturparks Nagelfluhkette, ein grenzüberschreitendes Projekt zwischen Deutschland und Österreich, genauer gesagt zwischen dem Allgäu und dem Bregenzerwald. Wer hier wandert, bewegt sich oft direkt auf der Grenze. Links Deutschland, rechts Österreich, oder umgekehrt, je nachdem in welche Richtung man stolpert. Die klassische Hochgrat-Überschreitung ist dabei die Königstour. Sie ist kein Sonntagsspaziergang für Halbschuh-Touristen, auch wenn die Bergbahnen an beiden Enden das suggerieren mögen. Man braucht Kondition, Wasser und einen Kopf, der mit Tiefblicken klarkommt.
Der Start am Hochgrat: Touri-Rummel und erste Schweißtropfen
Die meisten starten ihre Tour in Steibis bei Oberstaufen und nehmen die Hochgratbahn. Das spart die ersten achthundert Höhenmeter und schont die Knie für das, was noch kommt. An der Bergstation auf 1.708 Metern ist es meistens noch voll. Hier tummeln sich Ausflügler, die nur für ein Radler und den Blick auf den Bodensee hochfahren. Der Bodensee liegt im Westen und glitzert an guten Tagen wie eine silberne Pfütze in der Landschaft. Dreht man sich um, sieht man die schneebedeckten Gipfel der Zentralalpen. Das Panorama ist wuchtig. Aber wir wollen ja weiter. Sobald man die Terrasse der Bergstation verlässt und Richtung Osten auf den Gratweg einschwenkt, lichtet sich das Feld rapide. Die Turnschuhfraktion bleibt zurück.
Der Weg beginnt täuschend harmlos. Ein bisschen auf und ab, vorbei am Gipfelkreuz des Hochgrats, das im Sommer oft von neugierigen Alpendohlen belagert wird. Diese Vögel sind die heimlichen Herrscher hier oben. Mit ihren gelben Schnäbeln und den wendigen Flugmanövern segeln sie haarscharf an den Wanderern vorbei, immer in der Hoffnung, dass ein Krümel vom Landjäger abfällt. Füttern sollte man sie nicht, sie tun es trotzdem alle. Der Boden unter den Stiefeln ist hier noch breit, aber man merkt schon die Struktur des Nagelfluhs. Runde Kiesel, fest eingebacken in eine sandige Matrix. Bei Nässe wird das Zeug übrigens schmierig wie Seife. Wer bei Regen hier oben rumturnt, ist selbst schuld.
Rindalphorn und der Ernst des Lebens
Nach dem Abstieg in die Brunnenauscharte geht es wieder rauf zum Rindalphorn. Spätestens hier sortiert sich das Feld. Der Anstieg ist knackig, die Lunge pfeift vielleicht schon ein wenig. Das Rindalphorn bietet oft den schöneren, weil einsameren Gipfelmoment als der Hochgrat. Man sitzt im Gras, rupft vielleicht unbewusst an einem Grashalm und schaut zurück auf den Weg, den man schon gemacht hat. Das ständige Auf und Ab ist das Charakteristikum dieser Tour. Es ist kein gleichmäßiges Dahinzockeln auf einer Höhenlinie. Man erklimmt einen Gipfel, steigt in eine Scharte ab, flucht innerlich über den Höhenverlust, und kraxelt zum nächsten Gipfel wieder hoch. Gündleskopf, Buralpkopf, Sedererstuiben. Die Namen verschwimmen irgendwann, die Anstrengung bleibt.
Landschaftlich ist das Stück zwischen Rindalphorn und Stuiben grandios wild. Zur Nordseite brechen die Wände fast senkrecht ab. Man sieht die Schichtung des Gesteins wie in einem angeschnittenen Baumkuchen. Tief unten liegen dunkle Wälder und grüne Matten, auf denen im Sommer das Vieh steht. Das Geläut der Kuhschellen dringt gedämpft bis herauf, ein stetiges, fast meditatives Bimmeln, das zum Soundtrack des Allgäus gehört wie das Zischen beim Öffnen einer Bierdose. Südseitig ist das Gelände oft gutmütiger, grüne Hänge, die im Frühsommer förmlich explodieren vor Blüten. Enzian, Alpenrosen, Silberdisteln. Botaniker kriegen hier feuchte Augen. Wer nur für den Sport da ist, verpasst das Beste.
Die Sache mit der Leiter
Der Stuiben ist geschafft, die Beine sind schwer, aber jetzt kommt das psychologische Kernstück der Tour: der Steineberg. Oder besser gesagt, der Abstieg vom Steineberg. Wer die Tour von West nach Ost geht, steht irgendwann vor einer Kante und blickt eine 17 Meter lange Leiter hinunter. Sie lehnt fast senkrecht am Fels. Es gibt zwar einen Umweg, der die Stelle "umgeht" (ein harmloser Zickzack-Weg), aber das Ego will ja meistens die Leiter. Die Sprossen sind aus Stahl, alles wirkt solide, aber wenn man oben an der Kante steht und den ersten Fuß ins Leere setzt, kribbelt es ordentlich in der Magengrube. Der Rucksack zieht nach hinten, die Hände krallen sich fest. Blick nicht nach unten, sagen sie immer. Quatsch. Man muss ja sehen, wo man hintritt. Unten angekommen, zittern die Knie vielleicht ein bisschen mehr als vorher, aber man fühlt sich herrlich lebendig. Es ist dieser kurze Adrenalinkick, der die Müdigkeit für ein paar Minuten vertreibt.
Praktische Überlegungen und logistische Kniffe
Wasser ist ein Thema auf dem Grat. Es gibt keins. Man latscht stundenlang in der prallen Sonne (Schatten ist Mangelware), und die nächste Alpe liegt meistens einige hundert Höhenmeter weiter unten im Tal. Wer zu wenig trinkt, bekommt spätestens am Nachmittag Kopfschmerzen. Also lieber einen Liter mehr schleppen als auf dem Trockenen sitzen. Einkehrmöglichkeiten direkt am Grat sind rar bis nicht existent, bis man das Ende erreicht. Ein Abstieg zur Alpe Gund unterhalb des Steinebergs ist möglich und kulinarisch absolut empfehlenswert (der Käsekuchen ist eine Wucht), bedeutet aber zusätzliche Höhenmeter beim Wiederaufstieg oder einen alternativen Abstieg ins Tal. Man muss abwägen: Hunger oder Faulheit?
Die gesamte Überschreitung vom Hochgrat bis zum Mittag (dem Berg bei Immenstadt) dauert gut und gerne sechs bis sieben Stunden reine Gehzeit. Mit Pausen ist der Tag futsch. Viele unterschätzen die Länge. "Sind ja nur ein paar Kilometer Luftlinie", denkt man sich. Aber durch das ständige Rauf und Runter kommen weit über 1.000 Höhenmeter zusammen, obwohl man ja eigentlich "oben" bleibt. Gute Schuhe sind Pflicht. Wer hier mit Sandalen auftaucht, gehört eigentlich zwangsevakuiert. Knöchelhoch sollten sie sein, denn der Nagelfluh ist uneben, voller Wurzeln und loser Steine. Einmal umknicken kann hier oben richtig Ärger bedeuten.
Der Abstieg oder: Wann sind wir endlich da?
Das letzte Stück zieht sich wie Kaugummi. Nach dem Steineberg denkt man, man hätte es geschafft, aber der Weg zum Bärenköpfle und schließlich zur Bergstation der Mittagbahn in Immenstadt will einfach nicht enden. Der Weg wird breiter, einfacher, aber die Konzentration lässt nach. Genau dann passieren die dummen Stolperer. Wenn man schließlich die Sesselbahn am Mittag erreicht, ist das Gefühl der Erleichterung greifbar. Die Doppelsesselbahn ist ein Relikt aus gemütlicheren Zeiten, sie schaukelt einen sanft und langsam ins Tal nach Immenstadt. Man schwebt über die Baumwipfel, die Füße baumeln im Leeren, und man schaut zurück auf die Kette, die jetzt im späten Nachmittagslicht in warmen Brauntönen leuchtet. Von hier unten sieht sie wieder aus wie eine unüberwindbare Mauer. Dass man da gerade drüber gelaufen ist, kommt einem fast unwirklich vor.
Logistisch ist die Tour übrigens eine kleine Herausforderung, da Start und Ziel nicht am gleichen Ort liegen. Es gibt einen Busverbindungen zwischen Immenstadt und der Hochgratbahn in Steibis, aber die fahren nicht im Zehn-Minuten-Takt. Es lohnt sich, den Fahrplan vorher genau zu studieren, sonst steht man in Immenstadt und das Auto steht einsam in Steibis. Ein Taxi kostet nicht die Welt, wenn man sich die Kosten teilt, aber der Bus ist natürlich die stilvollere Variante. Oder man parkt das Auto gleich strategisch klug am Bahnhof in Immenstadt und fährt morgens mit dem Bus zum Start.
Warum man sich das antut
Die Nagelfluhkette ist kein Geheimtipp mehr. An schönen Herbstwochenenden ist man hier nicht allein. Aber sie hat nichts von ihrer Faszination verloren. Es ist diese Kombination aus skurriler Geologie, sportlicher Herausforderung und diesem unfassbaren Panorama, das einen immer wieder hochzieht. Man sieht den See, man sieht die Zugspitze, man sieht ins flache Voralpenland. Und man läuft auf einem Boden, der eine Geschichte erzählt, die Millionen Jahre alt ist. Wenn man abends die Schuhe auszieht und die Socken qualmen, weiß man, was man getan hat. Es ist ein ehrlicher Schmerz. Und der Muskelkater am nächsten Tag ist die beste Erinnerung daran, dass man dem Himmel ein kleines Stück näher war.
- Schwierigkeit: Mittel bis Schwer (T3 nach SAC-Skala). Trittsicherheit und Schwindelfreiheit an einigen Stellen zwingend erforderlich.
- Gehzeit: Ca. 6–7 Stunden für die komplette Überschreitung (Hochgrat bis Mittag).
- Ausrüstung: Feste Bergschuhe, ausreichend Wasser (mindestens 2-3 Liter), Sonnenschutz, Regenschutz (Wetterumschwünge gehen schnell).
- Beste Zeit: Juni bis Oktober. Im Frühjahr liegen in den nordseitigen Rinnen oft noch gefährliche Altschneefelder.
Der Reiz liegt im Detail. Manchmal ist es nur ein kleiner, weißer Kieselstein, der sich aus dem grauen Konglomerat gelöst hat und nun lose auf dem Weg liegt. Er hat eine Reise hinter sich, die wir uns kaum vorstellen können. Ihn aufzuheben, kurz in der Hand zu wägen und dann wieder zurückzulegen, verbindet einen mehr mit der Landschaft als jedes Gipfelfoto auf Instagram. Geht raus, schaut es euch an, aber bringt Respekt mit. Der Berg braucht euch nicht, aber ihr braucht vielleicht den Berg, um mal wieder den Kopf freizubekommen.