Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Balderschwang: Bayerns schneereichstes Dorf in alpiner Abgeschiedenheit

Wer hier hochfährt, lässt den Stress im Tal und die Sommerreifen besser in der Garage. Balderschwang ist kein Ort für den schnellen Kick, sondern eine alpine Welt für sich, in der die Uhren anders und die Schneeflocken dichter fallen. Ein Dorf, das geographisch eigentlich schon halb zu Österreich gehört und sich genau deshalb seinen eigenwilligen Charakter bewahrt hat.

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Zwischenablage

Es gibt einfachere Wege, um ans Ziel zu kommen, und dann gibt es die Anfahrt nach Balderschwang. Wer von deutscher Seite aus anreist, muss über den Riedbergpass. Das ist nicht irgendeine Straße, sondern mit 1.407 Metern die höchste befahrbare Passstraße Deutschlands. Im Sommer ist das eine nette Kurverei für Motorradfahrer, die ihre Maschinen in die Schräglage drücken, aber im Winter wird die Strecke zur echten Prüfung. Wenn unten in Fischen noch grünes Gras durch den Matsch lugt, hängen oben am Pass oft schon die Schneeketten-Schilder quer. Die 16 Prozent Steigung sind gnadenlos. Man spürt förmlich, wie der Motor gegen die Schwerkraft ankämpft und die Ohren wegen des Druckunterschieds kurz „plopp“ machen. Oben angekommen, öffnet sich die Landschaft unerwartet weit. Das Balderschwanger Tal liegt da wie eine riesige, weiße Wanne, geschützt und doch offen.

Geographisch ist die Lage kurios. Man ist zwar in Bayern, genauer im Oberallgäu, aber das Tal entwässert über die Bolgenach in den Bregenzerwald nach Österreich. Telefonvorwahlen und Postleitzahlen sind deutsch, aber das Lebensgefühl schwappt oft von Vorarlberg herüber. Bis zur Eröffnung der Passstraße in den 1960er Jahren war Balderschwang im Winter von Deutschland aus oft monatelang abgeschnitten. Die Alten im Dorf erzählen heute noch Geschichten davon, wie sie früher für Besorgungen eher nach Hittisau in Österreich gelaufen sind, als den beschwerlichen Weg über die Berge nach Oberstdorf zu wagen. Diese Abgeschiedenheit hat den Menschenschlag hier geprägt. Man ist herzlich, aber nicht aufdringlich. Ein bisschen stur vielleicht, was bei dem Wetter auch nötig ist.

Das Phänomen „Schneeloch“

Wenn Meteorologen von Nordstau sprechen, reiben sich die Balderschwanger Hoteliers die Hände und die Räumdienste trinken noch schnell einen starken Kaffee. Das Dorf gilt als schneereichste Gemeinde Deutschlands. Das ist keine Marketing-Erfindung, sondern meteorologischer Fakt. Die Wolken, die vom Nordwesten heranrauschen, prallen ungebremst auf die Nagelfluhkette und laden ihre weiße Fracht genau hier ab. Während man in München im Nieselregen steht, versinken die Häuser in Balderschwang im Tiefschnee. Es ist faszinierend zu beobachten, wie der Schnee hier eine eigene akustische Dämmung erzeugt. Geräusche werden geschluckt. Ein Auto, das in hundert Metern Entfernung vorbeifährt, hört man kaum. Alles wirkt gedämpft, weicher.

Man muss diese Mengen an Schnee mögen. Wer Angst vor weißen Wänden hat, die sich links und rechts der Straße auftürmen, ist hier falsch. Manchmal sieht man aus den Fenstern im Erdgeschoss wochenlang nur eine weiße Mauer. Die Einheimischen haben dafür pragmatische Lösungen entwickelt. Häuser werden so gebaut, dass die Eingänge oft im ersten Stock liegen oder zumindest so geschützt sind, dass man sich morgens nicht erst eine Stunde lang freischaufeln muss. Doch es hat auch etwas ungemein Beruhigendes. Wenn es schneit, dann schneit es richtig. Dicke, schwere Flocken, die sich auf Mützen und Wimpern legen. Es ist dieses „Bayerisch Sibirien“, wie Spötter es nennen, das aber an sonnigen Tagen eher an kanadische Weiten erinnert.

Auf schmalen Brettern zur Grenze

Natürlich gibt es hier Skilifte. Die Hänge am Schelpen und am Riedberger Horn sind solide, keine Frage. Familien mögen sie, weil man den Nachwuchs kaum verlieren kann. Es ist übersichtlich. Aber der wahre Star in Balderschwang ist die Loipe. Die „Grenzlandloipe“ ist so etwas wie die Autobahn für Langläufer, nur viel schöner und ohne Stau. Über 40 Kilometer zieht sich das Netz durch das Tal, und das Besondere ist die grenzüberschreitende Verbindung. Man gleitet auf den schmalen Latten fast unbemerkt hinüber nach Vorarlberg, Richtung Hittisau. Kein Schlagbaum, keine Kontrolle, nur ein kleines Schild im Schnee.

Klassisch oder Skating? Hier ist das fast eine Glaubensfrage, wobei die Skater auf den breiten Trassen oft in der Überzahl sind. Wer früh morgens loszieht, wenn der Schnee noch hart gefroren ist und unter den Skiern knirscht wie zerbröselndes Styropor, erlebt das Tal von seiner besten Seite. Der Atem steht als kleine weiße Wolke vor dem Gesicht. Manchmal zieht ein Fuchs am Waldrand entlang, unbeeindruckt von den bunten Gestalten auf der Loipe. Anspruchsvoll wird es, wenn man die steilen Stiche in Richtung der Alpwiesen nimmt. Da pumpt das Herz ordentlich, und man verflucht kurzzeitig die Entscheidung, nicht doch den Lift genommen zu haben. Aber die Abfahrt, bei der der Wind Tränen in die Augen treibt, entschädigt für die Schinderei.

Sommerfrische im Hochmoor

Sobald der Schnee – und das kann dauern – im späten April oder Mai endlich weicht, kommt ein ganz anderer Charakter des Tals zum Vorschein. Balderschwang liegt auf über 1.000 Metern, und das merkt man der Vegetation an. Es ist keine liebliche Hügellandschaft, sondern durchaus raues Terrain. Ein Großteil des Tals besteht aus Hochmoorflächen. Der Boden federt unter den Wanderschuhen. Es gluckst und schmatzt, wenn man abseits der befestigten Wege tritt (was man tunlichst lassen sollte, schon der Natur zuliebe). Diese Feuchtgebiete sind Überbleibsel der letzten Eiszeit, gigantische Schwämme, die Wasser speichern und langsam wieder abgeben.

Botaniker bekommen hier leuchtende Augen. Der Sonnentau, eine kleine fleischfressende Pflanze, wächst hier noch wild. Man muss sich bücken, um ihn zu sehen, unscheinbar und doch tödlich für Insekten. Im Sommer summt und brummt es überall. Bremsen gibt es leider auch reichlich, das gehört zur Wahrheit dazu. Ein gutes Mückenspray im Rucksack ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Die Luft ist würzig, fast schon schwer vom Duft der Gräser und Kräuter. Wer tief einatmet, riecht förmlich die Gesundheit. Wegen der Pollenarmut in dieser Höhe kommen viele Allergiker hierher, um endlich mal wieder durch die Nase atmen zu können.

Der Wächter der Zeit: Die Alte Eibe

Ein Pflichtbesuch, auch wenn das Wort nach Zwang klingt, ist der Gang zur „Alten Eibe“. Sie steht etwas oberhalb des Dorfes bei der Alpe Oberbalderschwang. Man schätzt ihr Alter auf irgendwo zwischen 800 und 1.500 Jahren. Genau weiß das niemand, denn Eiben wachsen von innen nach außen und verrotten oft im Kern, was Jahresringe zählen unmöglich macht. Dieser Baum ist eine Erscheinung. Knorrig, teilweise hohl, die Rinde schuppig und in einem rötlichen Braunton, der im Abendlicht fast zu glühen scheint. Sie hat schon gestanden, als das Allgäu noch tiefstes Mittelalter war, hat Kriege, Pest und Wetterkatastrophen überdauert. Wenn man die Hand auf das kühle Holz legt, fühlt man sich seltsam klein und unbedeutend. Ein lebendes Fossil, das stoisch auf das Tal hinabblickt.

Nagelfluh: Wandern auf Gottes Beton

Der geologische Unterbau von Balderschwang ist die Nagelfluhkette. Der Name ist Programm: Die Felsen sehen aus, als hätte ein Riese Flusskiesel in Beton gegossen und zu Bergen aufgetürmt. „Herrgottsbeton“ nennen die Einheimischen das Gestein treffend. Geologisch ist das Konglomeratgestein, gepresster Schutt aus den Ur-Flüssen der Alpen. Für Wanderer ist das spannend, aber auch tückisch. Bei Nässe wird der Nagelfluh schmierig wie Seife. Gute Profilsohlen sind keine Empfehlung, sondern Lebensversicherung.

Eine Tour auf den Hochgrat oder das Riedberger Horn bietet Ausblicke, die man sich erarbeiten muss. Es gibt hier keine Massenabfertigung wie am Nebelhorn. Die Wege sind schmaler, die Begegnungen seltener. Man trifft eher auf Gämsen, die in den steilen Flanken turnen, als auf Selfie-Stick-Gruppen. Oben am Grat bläst oft ein kräftiger Wind. Der Blick reicht an klaren Tagen bis zum Bodensee, der wie ein silberner Spiegel in der Ferne liegt, und tief hinein in die Schweizer Alpen. Der Säntis grüßt herüber.

Kulinarik: Mehr als nur Kässpatzen

Wer sich im Allgäu bewegt, kommt am Käse nicht vorbei. In Balderschwang wird die „Alpwirtschaft“ noch ernsthaft betrieben. Das bedeutet: Die Kühe sind im Sommer oben auf den Bergen, fressen Kräuter und produzieren eine Milch, die man im Supermarkt vergeblich sucht. Der daraus gemachte Bergkäse ist würzig, manchmal fast scharf im Abgang. In den Sennereien im Tal kann man zusehen, wie die Laibe gepflegt werden. Ein Geruch, der eine Mischung aus Stall, Salz und Reifung ist, liegt in der Luft. Manche rümpfen die Nase, andere bekommen sofort Hunger.

In den Gasthöfen dominiert Bodenständiges, aber oft mit einem modernen Twist. Die Nähe zu Vorarlberg merkt man auch auf dem Teller. Die Qualität ist hoch. Es wird viel Wert auf regionale Produkte gelegt, nicht weil es hip ist, sondern weil es hier oben schlichtweg logistisch Sinn macht. Das Wild kommt aus den eigenen Wäldern, das Rind von der Weide nebenan. Ein Tipp ist der Kaiserschmarrn auf einer der Hütten – nicht die staubtrockene Variante, sondern fluffig, karamellisiert und mit Zwetschgenröster, der eine leichte Säure als Kontrapunkt setzt.

Dorfleben und skurrile Frequenzen

Balderschwang ist klein. Winzig eigentlich. Rund 350 Einwohner verteilen sich auf die weit verstreuten Höfe und Hotels. Jeder kennt jeden. Man grüßt sich. Aber das Dorf hat eine spirituelle Besonderheit, die man nicht sofort vermutet: Radio Horeb. Ein katholischer Privatsender hat hier, in der Abgeschiedenheit, eines seiner Studios und Wurzeln. Es passt irgendwie ins Bild. Wo, wenn nicht hier, wo die Stille so laut sein kann, sucht man den Draht nach oben? Die Dorfkirche St. Anton ist schlicht, aber sehenswert. Oft sind es die kleinen Kapellen am Wegesrand, die zum kurzen Innehalten einladen. Man muss nicht gläubig sein, um die Atmosphäre dort zu schätzen.

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