Es ist schon ein kurioses Bild. Du fährst durch den Pfaffenwinkel, diese sanft hügelige Voralpenlandschaft, in der gefühlt hinter jedem Misthaufen ein Kloster steht, und plötzlich taucht sie auf. Keine Stadtmauer, kein Marktplatz, keine drängende Bebauung. Die Wieskirche steht, wie der Name schon sagt, auf einer Wiese. Kühe grasen in direkter Nachbarschaft, und wenn der Wind ungünstig steht, mischt sich der Duft von Weihrauch drinnen mit einer sehr bodenständigen Landluft draußen. Das ist Bayern in Reinkultur, aber eben jene Sorte, die fast schon zu klischeehaft wirkt, um wahr zu sein. Dominikus Zimmermann, der Architekt dieses Baus, hatte offenbar ein Händchen für dramatische Platzierungen. Man muss sich das mal vorstellen: Da baut einer Mitte des 18. Jahrhunderts eine Kirche von Weltformat in eine Gegend, wo sich Fuchs und Hase nicht nur Gute Nacht sagen, sondern sich vermutlich auch noch gegenseitig die Pfoten wärmen.
Wer hier ankommt, hat meist schon eine kleine Odyssee über bayerische Landstraßen hinter sich. Die Anfahrt zieht sich, und das ist gut so. Man entschleunigt zwangsweise hinter einem Traktor oder weil die Kurven einfach nicht schneller gehen. Angekommen auf dem Parkplatz – der natürlich gebührenpflichtig ist, umsonst ist im Tourismus nicht mal der Tod – schiebt man sich oft an Souvenirständen vorbei. Doch lass dich davon nicht abschrecken. Was hinter der eher schlichten, gelb-weißen Fassade wartet, spottet jeder Beschreibung, auch wenn ich es jetzt trotzdem versuche. Von außen wirkt der Bau fast gedrungen, ein bisschen wie ein gut genährter Landpfarrer nach dem Sonntagsbraten. Aber der Schein trügt gewaltig.
Vom Tränenwunder zum Pilgerstrom
Die Geschichte hinter dem Bau ist fast so wild wie die Dekoration im Inneren. Alles begann ziemlich unspektakulär auf dem Dachboden des Klosters Steingaden. Dort verstaubte eine hölzerne Figur des gegeißelten Heilands. Sie war den Mönchen zu hässlich, zu blutig, zu drastisch. Man hatte sie aus alten Teilen zusammengebastelt, quasi Recycling-Kunst des Barock. 1738 nahm sich die Bäuerin Maria Lory der Figur an, vielleicht aus Mitleid, vielleicht aus Frömmigkeit. Und dann passierte es: Sie sah Tränen in den Augen der Statue. Feuchtigkeit? Einbildung? Ein Wunder? Für das 18. Jahrhundert war die Antwort klar.
Schnell sprach sich das "Wunder in der Wies" herum. Erst kamen die Nachbarn, dann das ganze Dorf, und bald pilgerten Menschen aus halb Europa in den Pfaffenwinkel. Die kleine Feldkapelle, die man hastig errichtet hatte, platzte aus allen Nähten. Der Abt von Steingaden, Hyazinth Gassner, war Geschäftsmann genug, um das Potenzial zu erkennen. Ein Neubau musste her, und zwar einer, der dem Andrang gerecht wurde. Dass daraus eines der bedeutendsten Bauwerke des Rokoko werden würde, hatte vermutlich niemand auf dem Zettel. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet eine als wertlos erachtete Holzfigur den Anstoß für solch einen Prunkbau gab. Heute steht das Gnadenbild im Hochaltar, fast ein wenig verloren zwischen all dem Gold und Stuck, aber immer noch das eigentliche Zentrum des ganzen Trubels.
Der Innenraum: Ein Rausch in Pastell
Schritt über die Schwelle und – Bamm. Der Raum erschlägt einen nicht mit düsterer Schwere, wie man es von manchen gotischen Kathedralen kennt. Nein, die Wieskirche ist hell, sie ist luftig, sie ist fast schon heiter. Das ist Rokoko in seiner Endphase, kurz bevor der Klassizismus alles wieder streng und gerade bog. Dominikus Zimmermann und sein Bruder Johann Baptist, der für die Fresken zuständig war, haben hier ihr Meisterstück abgeliefert. Sie waren beide schon über 60, als sie anfingen. Alte Männer, die nochmal zeigen wollten, was eine Harke ist. Und wie sie es gezeigt haben.
Der Grundriss ist oval. Das nimmt dem Raum die Strenge. Alles fließt. Es gibt kaum harte Ecken, das Auge gleitet an den Wänden entlang, die eigentlich gar keine Wände sind, sondern eher Kulissen für ein theologisches Theaterstück. Die Farben sind irre: Viel Weiß, Gold, aber auch zartes Blau, Rosa und Gelb. Es wirkt wie ein überdimensioniertes Porzellanschloss. Man nennt das den "Wessobrunner Stuck", eine Technik, die hier zur absoluten Perfektion getrieben wurde. Schau dir die Säulen im Altarraum an. Die sehen aus wie massiver Marmor, rot und blau. Sind sie aber nicht. Das ist Stuckmarmor. Gips, Leim, Pigmente, poliert bis zum Glanz. "Lüftlmalerei" in 3D, wenn man so will. Das war damals billiger als echter Stein, erforderte aber ein handwerkliches Können, das heute kaum noch jemand beherrscht. Es ist eine perfekte Illusion. Nichts ist hier echt, und doch wirkt alles wahrhaftiger als die Realität draußen vor der Tür.
Himmel ohne Decke
Wenn du deinen Nacken riskieren willst, leg den Kopf in den Nacken. Das Deckenfresko ist der Wahnsinn. Johann Baptist Zimmermann hat da oben den Himmel aufgerissen. Man sieht den wiederkehrenden Christus, der auf einem Regenbogen thront. Aber der Clou ist der leere Thron des Richters. Das soll heißen: Die Gnade ist jetzt da, das Gericht kommt später. Für die einfachen Bauern damals muss das ein Trost gewesen sein, für uns heutige Betrachter ist es vor allem ein perspektivisches Meisterwerk. Die Figuren scheinen aus der Decke herauszufallen. Es gibt da diesen einen Engel, der frech über den Stuckrand nach unten schaut. Humor hatten sie also auch, die Zimmermanns.
Auffällig ist das Licht. Die Fenster sind so angeordnet, dass der Raum zu fast jeder Tageszeit gleichmäßig ausgeleuchtet ist. Keine dunklen Ecken, in denen der Teufel hocken könnte. Alles ist auf Transparenz und Leichtigkeit ausgelegt. Experten sprechen vom "Theatrum Sacrum", dem heiligen Theater. Und genau so fühlt es sich an. Man ist Zuschauer in einer Inszenierung, die darauf abzielt, einen emotional zu packen. Und selbst wenn man mit Religion nicht viel am Hut hat: Die schiere Ästhetik dieses Raumes macht etwas mit einem. Man wird automatisch leiser. Zumindest, wenn nicht gerade eine Reisegruppe aus Übersee lautstark die Blitzlichter testet.
Weltkulturerbe – Warum eigentlich?
Seit 1983 steht die Wies auf der UNESCO-Liste. Das ist so ziemlich der Ritterschlag für jedes Gebäude. Die Begründung liest sich meist trocken, aber der Kern ist simpel: Die Wieskirche ist das vollendetste Kunstwerk des bayerischen Rokoko. Ein "Gesamtkunstwerk", bei dem Architektur, Malerei und Stuck so ineinandergreifen, dass man nicht mehr sagen kann, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Es gibt weltweit nichts Vergleichbares in dieser Geschlossenheit. Zudem ist die Kirche fast unverändert erhalten geblieben. Keine späteren Verschlimmbesserungen, keine neugotischen Anbauten. Was du heute siehst, ist im Grunde das, was die Pilger 1754 bei der Einweihung sahen. Das ist selten.
Ein Detail am Rande: Dominikus Zimmermann war so verliebt in sein Werk, dass er sich weigerte, wegzuziehen. Er baute sich ein Haus direkt neben der Kirche und lebte dort bis zu seinem Tod. Er guckte quasi jeden Tag aus dem Fenster und dachte sich wohl: "Ja, das ist mir ganz gut gelungen." Sein Grab ist übrigens nicht weit weg, in Steingaden. Aber sein Herz, im übertragenen Sinne, schlägt hier in der Wies.
Praktische Tipps für den Besuch
Jetzt mal Butter bei die Fische. Die Wieskirche ist kein Geheimtipp. Über eine Million Besucher trampeln hier jedes Jahr durch. Wenn du Ruhe suchst, hast du ein Problem. Oder du musst clever sein.
- Der frühe Vogel fängt den Stuck: Sei vor 9 Uhr da. Oder am späten Nachmittag, wenn die Busse weg sind. Das Licht ist dann eh am schönsten, besonders im Sommer, wenn die Abendsonne den Innenraum in warmes Gold taucht.
- Gottesdienste respektieren: Das ist immer noch eine aktive Kirche, kein Museum. Während der Messe ist Rumlaufen und Fotografieren tabu. Und die Ordner sind da ziemlich streng. Zu Recht. Wer will schon beten, wenn ihm ein Selfie-Stick im Gesicht hängt?
- Wandern statt nur gucken: Verbinde den Besuch mit einer Wanderung. Der "Brettleweg" führt durch das Hochmoor direkt zur Kirche. Das Holz knarzt unter den Stiefeln, die Vögel zwitschern, und man nähert sich der Kirche so, wie es die Pilger früher taten: zu Fuß. Das erdet ungemein.
- Essen und Trinken: Rund um die Kirche gibt es natürlich Gastronomie. Der "Wieswirt" ist eine Institution. Man sitzt schön, das Bier ist kalt, die Preise sind... nun ja, der Lage angepasst. Aber ein Paar Weißwürste oder eine Portion Käsespätzle gehen immer. Probier die "Ausgezogenen" (ein Hefegebäck), wenn sie frisch sind. Ein Gedicht.