Es ist eigentlich ein technischer Zweckbau. Das muss man sich vor Augen halten, wenn man am Ufer steht. Der Forggensee ist kein Relikt der letzten Eiszeit, zumindest nicht direkt, sondern eine gigantische Badewanne, die der Lech füllt und die Menschen in den 1950ern angestaut haben. Das klingt erstmal wenig romantisch. Aber genau diese Weite, die für einen bayerischen Voralpensee fast untypisch riesig wirkt, macht ihn zur perfekten Leinwand für das, was passiert, wenn die Sonne Feierabend macht.
Das Wasser hat diesen speziellen Ton. Ein milchiges Türkis, verursacht durch das Gesteinsmehl, das der Lech aus den Alpen mitbringt. Wenn die Sonne tief steht, verwandelt sich diese fast schon kitschige Postkartenfarbe in eine dunkle, spiegelnde Fläche, die das Restlicht aufsaugt und verdoppelt. Du stehst am Ufer, vielleicht hast du dir ein Bier vom Kiosk geholt oder eine mitgebrachte Stulle in der Hand, und schaust nach Süden. Und da ist es dann, dieses Panorama, für das andere um die halbe Welt fliegen.
Der Forggensee ist der größte See im Allgäu, und seine Nord-Süd-Ausrichtung ist der eigentliche Trick an der Sache. Die Sonne sinkt im Westen, oft leicht nordwestlich im Sommer, und strahlt wie ein Scheinwerfer direkt auf die Bühne im Süden. Und auf dieser Bühne stehen die absoluten Schwergewichte: Der Tegelberg, der Säuling mit seiner markanten Pyramidenform und natürlich die Tannheimer Berge im Hintergrund. Dazwischen, fast schon wie Spielzeug platziert, kleben Neuschwanstein und Hohenschwangau am Hang.
Der Logenplatz im Norden: Roßhaupten und der Damm
Viele Besucher machen den Fehler und bleiben in Füssen kleben. Klar, da ist die Infrastruktur, da sind die Hotels. Aber wer das Panorama als Ganzes will, muss weg vom Berg, um den Berg zu sehen. Im Norden, beim Staudamm in der Nähe von Roßhaupten, ändert sich die Perspektive gewaltig. Hier ist es oft windiger, rauer.
Du parkst am Informationszentrum beim Kraftwerk. Der Betonklotz des Damms ist massiv, keine Frage. Aber oben auf der Krone zu laufen, während die Dämmerung einsetzt, hat etwas fast Meditatives. Von hier aus hast du die längste Sichtachse über das Wasser. Das Schloss Neuschwanstein ist von hier bloß ein kleiner weißer Fleck in der Ferne, aber genau das macht den Reiz aus. Es ordnet sich der Natur unter. Wenn die Sonne sinkt, werfen die Berge lange Schatten über den See, die langsam auf dich zukriechen. Das Wasser am Damm ist tief und dunkel, und oft sieht man hier die Einheimischen, die noch schnell eine Runde mit dem Hund drehen oder die Angelrute einholen.
Interessant ist hier die Akustik. Weil der See so breit ist und der Wind meist von den Bergen herunterfällt (gerade wenn Föhnwetterlage ist), trägt der Schall weit. Manchmal hört man das Läuten von Kuhglocken von den umliegenden Weiden, obwohl die Tiere kilometerweit weg scheinen. Es riecht hier weniger nach Sonnencreme und Pommesfett als am Südufer, eher nach feuchtem Kies, Nadelwald und Ozon.
Füssen und das Südufer: Mittendrin statt nur dabei
Wer es etwas lebhafter mag und die Kulisse hautnah braucht, bleibt im Süden. Der Bereich um das Festspielhaus Neuschwanstein ist der Klassiker. Zugegeben, du wirst hier selten allein sein. An lauen Sommerabenden sitzen die Leute auf den Kiesbänken wie Hühner auf der Stange. Aber die Stimmung ist kollektiv entspannt. Man guckt gemeinsam.
Der Vorteil am Südufer: Du hast den Forggensee im Rücken und schaust oft direkt in den Sonnenuntergang hinein, wenn du Richtung Westen blickst, oder du drehst dich um und siehst das Glühen auf den Felswänden des Säuling. Dieser Berg ist der eigentliche Star der Show. Wenn die Sonne schon längst unter dem Horizont verschwunden ist, glüht der Kalkstein oben am Gipfel oft noch minutenlang in einem unrealistischen Orange nach. Das berühmte Alpenglühen. Ein Einheimischer hat mal gesagt: „Wenn der Säuling brennt, ist das Wetter morgen schee.“ Meistens hat er recht.
Ein kleiner Geheimtipp ist der Weg vom Festspielhaus Richtung Waltenhofen. Da wird der Uferweg schmaler, und es gibt immer wieder kleine Buchten zwischen Schilf und Gebüsch. Da kannst du dich reinsetzen, die Füße ins Wasser hängen (Vorsicht, der Lech ist auch im Hochsommer keine Badewanne, sondern erfrischend kühl) und warten. Mücken gibt es leider auch, also Autan nicht vergessen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Die Sache mit dem Wasserstand: Eine Winterlandschaft im Sommer?
Jetzt kommt ein Fakt, den viele Touristen nicht auf dem Schirm haben und dann blöd aus der Wäsche gucken, wenn sie im falschen Monat anreisen. Der Forggensee ist im Winter weg. Einfach weg. Ab Mitte Oktober werden die Schleusen geöffnet, und das Wasser fließt ab, um Platz für das Schmelzwasser im Frühjahr zu schaffen. Bis zum Juni füllt er sich langsam wieder.
Das heißt für den Sonnenuntergangs-Jäger: Zwischen November und Mai blickst du nicht auf spiegelndes Wasser, sondern auf eine Mondlandschaft aus Schlick, Kies und alten Baumstümpfen. Das hat seinen ganz eigenen, morbiden Charme. Man kann dann auf dem Seegrund spazieren gehen. Man sieht die Reste der alten Römerstraße Via Claudia Augusta, die hier durchlief, und manchmal sogar die Grundmauern der Höfe, die für den Stausee weichen mussten. Ein Sonnenuntergang über dieser leeren, braun-grauen Wüste, dahinter die schneebedeckten Alpen – das ist fotografisch fast spannender als die Hochglanz-Sommervariante. Es ist melancholischer. Ruhiger. Wenn du also in der Nebensaison da bist: Geh trotzdem hin.
Fotografie: Goldene Stunde und Blaue Stunde
Für alle, die nicht nur gucken, sondern knipsen wollen: Das Licht im Allgäu ist oft klarer als im Flachland. Weniger Dunst, außer es ist diesig vor einem Gewitter. Die „Goldene Stunde“ ist hier intensiv, weil die Berge das Licht reflektieren. Aber pack die Kamera nicht weg, wenn die Sonne weg ist. Die „Blaue Stunde“ am Forggensee ist der Wahnsinn.
Das Wasser nimmt dann diese tiefblaue, fast ins Violett gehende Färbung an. Die Lichter von Hohenschwangau gehen an, das Schloss wird angestrahlt (sieht man vom Südufer gut), und die Straßenlaternen spiegeln sich im See. Ein Stativ ist Pflicht, wenn du das vernünftig einfangen willst. Spiel mit der Belichtungszeit, um das Wasser glattzubügeln. Aber übertreib es nicht mit der Sättigung in der Nachbearbeitung; die Natur liefert hier schon genug Farbe, da muss man nicht digital nachhelfen.
Essen, Trinken und das richtige Timing
Sonnenuntergang macht hungrig. Die Gastronomie direkt am See ist vorhanden, aber oft saisonal und wetterabhängig. Es gibt Kioske und Biergärten, etwa beim Bootshafen in Füssen oder das Café Maria in der Nähe von Osterreinen (Westufer – auch ein toller Spot, weil man von dort direkt auf die Berge schaut). Aber sei gewarnt: Bei schönem Wetter ist es voll. Richtig voll.
Die klügere Variante ist das klassische bayerische Picknick, oder wie man hier sagt: Brotzeit. Kauf dir im Supermarkt in Füssen oder Schwangau Brezn, Obazda, ein paar Landjäger und ein lokales Bier (Aktienbrauerei Kaufbeuren oder Engelbräu). Such dir eine Bank oder einen großen Stein am Ufer. Das ist stressfreier als der Kampf um den letzten freien Tisch auf der Terrasse, und du hast die bessere Aussicht.
Wann genau du da sein musst? Im Hochsommer geht die Sonne spät unter, oft erst gegen 21:00 Uhr oder später ist es richtig dunkel. Aber da die Berge im Westen (Tannheimer Tal, Pfrontener Berge) den Horizont künstlich erhöhen, verschwindet die Sonne für dich am Seeufer oft schon eine halbe Stunde vor dem „offiziellen“ Sonnenuntergang. Das Lichtspiel an den gegenüberliegenden Bergen geht dann aber erst richtig los. Also: Nicht abhauen, wenn der Schatten dich erreicht. Sitzenbleiben. „Lueg mol“, würde der Allgäuer sagen – schau mal hin, wie sich die Farben ändern.
Die Stimmung einfangen: Mehr als nur Optik
Es ist schwer, die Atmosphäre nur mit visuellen Beschreibungen zu greifen. Ein Sommerabend am Forggensee ist ein Gesamtkunstwerk. Da ist das leise Schwappen der Wellen, wenn ein Ausflugsdampfer (die MS „Allgäu“ oder die „Füssen“) seine letzte Runde dreht und in den Hafen zurückkehrt. Da ist das Geräusch von Kies unter den Schuhsohlen der Spaziergänger. Manchmal weht ein Geruch von frisch gemähtem Gras herüber, gemischt mit dem modrigen Duft von Treibholz.
Es ist ein Ort, der einen runterbringt. Selbst wenn viele Leute da sind, verliert sich die Menge in der Weite der Landschaft. Man sitzt da, schaut zu, wie der Tag verblasst, und spürt diese seltsame Zufriedenheit, die einen oft an Gewässern überkommt. Der „Kini“ Ludwig II. wusste schon, warum er sich hier niedergelassen hat, auch wenn er den Stausee noch nicht kannte. Die Kulisse ist einfach dramatisch. Pfiati Tag, hallo Nacht.
Kleine Checkliste für den perfekten Abend
- Parken: Kleingeld bereithalten oder Park-App nutzen. Die Kontrolleure im Ostallgäu sind fleißig, auch abends.
- Kleidung: Sobald die Sonne weg ist, fällt kühle Luft von den Bergen runter. Ein Pulli im Rucksack ist nie ein Fehler, auch im Juli nicht.
- Schwimmen: Bis zum Sonnenuntergang möglich und erlaubt (außer im Hafenbereich und am Damm direkt). Das Wasser ist sauber, aber frisch.
Fazit: Ein Muss, aber mit Geduld
Der Sonnenuntergang am Forggensee ist kein Geheimtipp mehr, das wäre gelogen. Aber er ist aus gutem Grund beliebt. Es ist die Kombination aus Alpen-Drama, Wasserfläche und der einfachen Erreichbarkeit, die ihn so besonders macht. Ob du nun Hobbyfotograf mit Teleobjektiv bist, ein Pärchen auf Romantik-Kurs oder einfach jemand, der nach einer Bergtour die Beine kühlen will – hier passt alles zusammen.
Die schönste Stimmung erwischt man oft an den Tagen, die tagsüber gar nicht so perfekt aussahen. Wenn noch ein paar Wolkenfetzen am Himmel hängen, die dann von unten rot angestrahlt werden, ist das Schauspiel viel beeindruckender als bei wolkenlos blauem Himmel. Also lass dich von der Wetter-App nicht zu schnell abschrecken.