Es ist fast schon ein physikalisches Phänomen. Gegen 17 Uhr ändert sich der Aggregatzustand dieser Stadt. Bis dahin ist Füssen oft nur der Durchlauferhitzer für den globalen Tourismus, der Parkplatz für Neuschwanstein, die Warteschleife für das Märchenschloss. Man schiebt sich durch die Gassen, hört ein babylonisches Sprachgewirr und stolpert über Selfiesticks. Aber dann, ziemlich abrupt, verschwinden sie. Die Busse rollen zurück nach München oder Zürich, die Tagesausflügler sitzen wieder in ihren Autos. Zurück bleibt eine Stille, die sich beinahe greifbar über das Kopfsteinpflaster legt. Genau jetzt beginnt die eigentliche Zeit für Füssen. Die Einheimischen kommen aus der Deckung. Die Schatten werden länger, und die Pastellfarben der Häuserfassaden wirken nicht mehr wie eine Theaterkulisse, sondern wie ein echtes Zuhause. Wer klug ist, quartiert sich genau deshalb in der Altstadt ein und nicht in den anonymen Hotelkästen draußen am Forggensee. Die Atmosphäre wechselt von hektischem Transit zu alpenländischer Gelassenheit. Man kann jetzt das Rauschen des Lechs hören, der sich an der Stadtmauer vorbeidrückt. Das ist der Moment für einen Spaziergang, bei dem man nicht rempeln muss.
Das Hohe Schloss: Die schönste Lüge der Stadt
Während alle Welt auf das Bauwerk des "Kini" (König Ludwig II.) starrt, thront direkt über der Füssener Altstadt eine Festung, die historisch gesehen deutlich relevanter ist. Das Hohe Schloss war Sommerresidenz der Fürstbischöfe von Augsburg. Es wirkt wuchtig, fast trutzig. Aber beim Näherkommen fällt etwas auf, das man heute wohl als "Fake" bezeichnen würde, damals aber höchste Kunst war. Die prachtvollen Erker an den Fassaden, die Fenstereinfassungen, das Bossenwerk an den Ecken? Alles nur gemalt. Illusionsmalerei nennt man das. Man steht im Innenhof und muss zweimal hinsehen, um zu begreifen, dass die Wand eigentlich flach ist wie ein Brett. Das hat einen fast schon sympathischen Charme: Man wollte protzen, hatte aber vielleicht nicht das Budget oder die Zeit für echten Steinmetz-Pomp. Oder man fand die optische Täuschung einfach schicker. Der Wehrgang hier oben ist meistens menschenleer. Von den hölzernen Luken aus blickt man direkt auf die Dächerlandschaft. Rote Ziegel, verwinkelte Giebel, Rauch aus den Kaminen. Es riecht hier oben oft nach kaltem Stein und feuchtem Laub. Anders als drüben beim Märchenschloss muss man hier keine Nummer ziehen. Man ist einfach da.
Tanz mit dem Tod: Ein Abstecher in die Stille
Unten in der Stadt, direkt am Lechufer, liegt das Kloster St. Mang. Barock, klar, das kennt man im Voralpenland zur Genüge. Aber dieses Kloster hat eine Ecke, die unter die Haut geht und die viele in ihrer Eile übersehen. In der Anna-Kapelle befindet sich der Füssener Totentanz. Das ist keine fröhliche Folklore. Es ist der älteste in Bayern erhaltene Totentanz-Zyklus. Gemalt zu einer Zeit, als die Pest noch eine reale Bedrohung war und nicht nur ein Kapitel im Geschichtsbuch. Der Tod holt sie alle: den Kaiser, den Bischof, den Bauern, das kleine Kind. "Sagt Ja, sagt Nein, getanzt muss sein", steht dort sinngemäß. Wenn man dort steht, in diesem kühlen, etwas modrigen Raum, wird einem die eigene Vergänglichkeit ziemlich drastisch vor Augen geführt. Das ist weit weg von Disney-Romantik. Das ist der echte, raue Kern des Mittelalters. Ironischerweise ist das Museum im Kloster auch dem Geigen- und Lautenbau gewidmet. Füssen war mal das europäische Zentrum dafür. Bevor die billige Importware kam, wussten die Menschen hier, wie man Holz zum Klingen bringt. Die alten Instrumente in den Vitrinen schweigen zwar, aber sie erzählen von einer Handwerkskunst, die Geduld erforderte. Etwas, das heute Mangelware ist.
Der Lechfall: Kein Niagara, aber türkis
Man muss die Stadt gar nicht weit verlassen, um zu begreifen, dass die Natur hier die Regie führt. Ein kurzer Fußmarsch Richtung österreichische Grenze, vielleicht zwanzig Minuten, führt zum Lechfall. Erwarte keine gigantischen Kaskaden, die den Boden erzittern lassen. Der Lech stürzt hier über eine Staustufe (die übrigens dem Hochwasserschutz dient und nicht der Natur entsprungen ist) in eine enge Klamm. Was aber fasziniert, ist die Farbe. Je nach Wetter und Jahreszeit ist es ein milchiges Türkis, manchmal ein sattes Jadegrün. Das kommt vom Gesteinsmehl, das der Fluss aus den Alpen mitbringt. "Gletschermilch" sagen die Geologen dazu, was irgendwie poetischer klingt als Sediment. Der Legende nach ist der Heilige Magnus hier über den Fluss gesprungen, um seinen heidnischen Verfolgern zu entkommen. Man sieht angeblich noch den Fußabdruck im Fels. Ob man das glaubt, ist zweitrangig. Spannend ist, wie sich das Wasser durch den Fels frisst. Unten in der Klamm gurgelt und schäumt es, und wenn man auf dem Maxsteg steht, spürt man die kühle Luft, die vom Wasser aufsteigt. Geht man ein Stück weiter, landet man in Bad Faulenbach. Das "Tal der Sinne". Klingt esoterisch, ist aber eigentlich nur ein nettes, ruhiges Tal mit schwefelhaltigen Mooren und wenig Empfang fürs Smartphone. Perfekt zum Abschalten.
Allgäuer Küche: Deftig statt Diät
Wer den ganzen Tag über Kopfsteinpflaster gelaufen ist, braucht Kalorien. Die Allgäuer Küche gewinnt keine Preise für Leichtigkeit, aber sie macht ehrlich satt. In der Altstadt gibt es diverse Wirtshäuser, die noch nicht komplett zur Touristenfalle mutiert sind. Meide die Läden, wo die Speisekarte in acht Sprachen und mit Fotos draußen hängt. Such dir lieber etwas in den Seitengassen, vielleicht die Weinstube im "Woaze" oder, wenn es zünftig sein soll, den Gasthof Krone (der mit der Ritterrüstung). Was auf den Tisch kommt? Kässpatzen. Das ist hier Religion. Echte Kässpatzen werden nicht mit Gouda gemacht, sondern mit einer Mischung aus Bergkäse, Emmentaler und Weißlacker. Letzterer riecht streng, gibt aber die Würze. Wenn der Kellner den Teller bringt, schwimmen die Spätzle idealerweise in Fett und Käsefäden, und oben drauf liegen Röstzwiebeln, die krachen müssen. Dazu passt ein Helles oder ein Weizen. Wer danach noch laufen kann, hat zu wenig gegessen. Ein interessantes Detail am Rande: In vielen alten Wirtshäusern sind die Decken niedrig. Früher waren die Leute kleiner, und die Wärme hielt sich besser. Kopf einziehen gehört also zum authentischen Erlebnis dazu.
Der Alatsee: Schön, aber gefährlich
Wenn du ein Auto hast oder gut zu Fuß bist (es fährt auch ein Bus), dann verlasse die Stadtgrenze für den Alatsee. Er liegt etwas oberhalb, versteckt im Wald, kurz vor dem Spalt zu Österreich. Die Einheimischen haben ein gespaltenes Verhältnis zu diesem Gewässer. Er ist wunderschön, fast kitschig spiegelglatt am Morgen. Aber er hat es in sich. In etwa 15 Metern Tiefe gibt es eine Schicht aus Schwefelbakterien, rot wie Blut. Darunter lebt nichts mehr, kein Fisch, kein Krebs, nur giftiger Schlamm. Taucher erzählen Gruselgeschichten von Baumstämmen, die dort unten wie Mikado-Stäbchen liegen. Im Sommer kippt der See manchmal um, dann färbt sich das Wasser rötlich. "Der blutende See" wird er dann genannt. Natürlich ranken sich Mythen um Nazi-Gold, das hier versenkt wurde, und um Fabelwesen. Ein lokales Autoren-Duo (Kluftinger-Krimis) hat den See berühmt gemacht. Aber selbst ohne Krimi im Gepäck: Ein Rundgang um den Alatsee, wenn der Nebel noch über dem Wasser hängt, hat etwas Mystisches. Es ist totenstill, nur ab und zu knackt ein Ast. Hier triffst du keine amerikanischen Reisegruppen, sondern eher den pensionierten Lehrer aus Füssen mit seinem Dackel.
Jenseits der Hauptsaison: Winter am Forggensee
Ein echter Geheimtipp für Leute, die Melancholie mögen, ist der Forggensee im Winter. Er ist Deutschlands größter Stausee und im Sommer voller Segelboote und Ausflugsdampfer. Aber im Winter lassen sie das Wasser ab. Weitgehend jedenfalls. Übrig bleibt eine mondartige Landschaft aus Kies, Schlamm und alten Baumstümpfen. Man kann auf dem Grund des Sees spazieren gehen. Dort, wo im Sommer Fische schwimmen, läufst du jetzt über den Boden der Tatsachen. Man findet Reste der alten Via Claudia Augusta, der Römerstraße, die hier durchlief, bevor man das Tal flutete. Es hat etwas fast Postapokalyptisches, über den trockenen Seegrund zu stapfen, im Hintergrund die verschneiten Alpen und die zwei Schlösser, die von hier unten winzig aussehen. Der Wind pfeift hier ordentlich durch, also Mütze nicht vergessen. Es ist ein bizarrer Kontrast zur Postkartenidylle des Sommers, aber gerade deshalb so faszinierend. Man sieht die Narben der Landschaft, die technische Notwendigkeit hinter der Schönheit.
Praktisches und Unnützes
- Hinkommen: Der Zug endet in Füssen. Sackbahnhof. Wer hier aussteigt, ist wirklich da. Die Fahrt von Kaufbeuren durchs hügelige Voralpenland ist allein schon das Ticket wert.
- Übernachten: Es gibt ein paar nette Boutique-Hotels in den alten Bürgerhäusern. Das "Altstadt-Hotel" oder das "Hirsch" sind solide Adressen. Wer es hip mag: Es gibt mittlerweile auch modernere Konzepte, die das Alpen-Design etwas entstauben.
- Souvenirs: Kauf keinen Plastikritter. Geh zum Bäcker und kauf ein "Seelen" (ein kümmeliges, salziges Gebäck) oder nimm einen Laib Bergkäse aus der Sennerei mit.