Wenn du in Füssen aus dem Zug steigst oder das Auto in eine der engen Parklücken zirkelst, hast du wahrscheinlich erst mal König Ludwig und seine Märchenschlösser im Kopf. Klar, Neuschwanstein klebt wie Kaugummi am Image der Region. Aber wenn du den wahren, etwas düsteren Herzschlag des Allgäus spüren willst, musst du die Touristenmassen links liegen lassen. Geh runter zum Lech, über die Brücke und rein in den Bauch des Klosters St. Mang. Dort, im Museum der Stadt Füssen, hängt etwas an der Wand, das dir mehr über das Leben erzählt als jeder goldene Thronsaal: der Füssener Totentanz. Es ist still hier. Man hört vielleicht das Knarren der Dielen oder das gedämpfte Husten eines anderen Besuchers, der sich gerade fragt, ob das Hüsteln nur ein Frosch im Hals ist oder doch die Pest.
Das Werk ist kein nettes Ölgemälde für das Wohnzimmer. Es ist ein monumentaler Zyklus, entstanden in einer Zeit, als das Sterben zum Tagesgeschäft gehörte. Wir schreiben das Jahr 1602. In Füssen wütet die Pest. Die Leute fallen um wie die Fliegen, die Totengräber kommen mit dem Schaufeln kaum nach, und die Angst kriecht durch jede Ritze der Fachwerkhäuser. In genau dieser Stimmung greift der lokale Maler Jakob Hiebeler zum Pinsel. Er malt nicht, um zu gefallen. Er malt, um das Unbegreifliche irgendwie an die Wand zu nageln.
Der Sensenmann macht keine Unterschiede
Das Prinzip ist simpel und brutal demokratisch. Hiebeler zeigt uns zwanzig Paare. Immer eine Person aus dem gesellschaftlichen Leben und dazu, als unbarmherziger Tanzpartner, den Tod. Was mir beim Betrachten immer wieder auffällt, ist die fast schon bürokratische Ordnung, die hier herrscht. Es geht streng hierarchisch zu. Ganz oben fängt es an beim Papst und beim Kaiser, dann geht es die soziale Leiter runter über Bischof, Herzog, Ritter bis hinunter zum Bettler und zum kleinen Kind.
Es ist diese Unausweichlichkeit, die einen frösteln lässt. Der Tod, dargestellt als halb verwester Leichnam oder Skelett, manchmal noch mit Hautfetzen am Knochen, die gelb-bräunlich im schummrigen Licht wirken, fordert jeden auf. "Sagt Ja, Sagt Nein, getanzt muess sein", lautet das Motto. Da gibt es kein Vertun. Der Kaiser hält noch seinen Reichsapfel fest, als könnte er sich damit freikaufen. Der Papst klammert sich an seinen Stab. Es nützt nichts. Der Tod grinst – oder zumindest sieht der nackte Schädel so aus – und zerrt sie mit. Hiebeler hat den Tod dabei nicht als bösartiges Monster gemalt, sondern eher als einen, der seinen Job macht. Ein strenger Beamter der Ewigkeit, wenn man so will.
Dialoge mit dem Jenseits
Nimm dir Zeit für die Texte. Unter jedem Bildpaar stehen Verse, ein Dialog zwischen dem Sterbenden und dem Tod. Das ist kein hohes Latein, sondern deftiges Deutsch der damaligen Zeit. Die Figuren wehren sich, sie jammern, sie bitten um Aufschub. Der reiche Kaufmann will noch schnell seine Geschäfte regeln, Geld zählen, Bilanzen prüfen. Der Tod sagt ihm trocken, dass sein Konto gerade geschlossen wurde. Endgültig.
Besonders hängen bleibt man oft beim Bild der Hexe. Das ist ungewöhnlich für Totentänze. Füssen war eine Hochburg der Hexenverfolgung, und dass Hiebeler diese Figur aufnimmt, zeigt, wie tief der Aberglaube und die soziale Hysterie damals saßen. Der Tod holt sie genauso wie den frommen Abt. Am berührendsten finde ich persönlich aber immer die Szene mit dem Kind. Da wird der Tod fast ein bisschen sanft, wie ein seltsamer Babysitter, der das Kleine an die Hand nimmt. Es ist schwer zu ertragen, wenn man bedenkt, wie viele Kinder Hiebeler wohl selbst hat sterben sehen in diesem Seuchenjahr.
Vom Kalk überdeckt und wiedergefunden
Dass wir diesen Reigen heute überhaupt sehen können, ist pures Glück. Oder Schlamperei, je nachdem, wie man es sieht. Im Barock, als alles golden, prunkvoll und lebensbejahend sein musste, hatte man keine Lust mehr auf diese düsteren Mahnungen. Man wollte Putten und rosa Wölkchen, keine Gerippe. Also wurde der Totentanz einfach übertüncht. Weg damit, aus den Augen, aus dem Sinn. Erst viel später, als man das Kloster renovierte und den historischen Wert erkannte, kratzte man die Schichten wieder runter. Deshalb sehen die Bilder heute so aus, wie sie aussehen: etwas blass, fragmentarisch, mit Rissen und Lücken. Aber genau das macht den Charme aus. Es ist keine Hochglanz-Restaurierung, sondern man sieht die Narben der Zeit.
Es riecht in der Annakapelle, wo der Zyklus heute zu finden ist (bzw. im Korridor davor, die Aufstellung variierte über die Jahre museal leicht), oft ein wenig nach altem Staub und kaltem Stein. Das passt. Wenn die Sonne draußen auf den Lech knallt und das Wasser dieses unglaubliche Türkis annimmt, wirkt der Kontrast drinnen umso härter. Du kommst aus der Postkartenidylle und stehst plötzlich vor der eigenen Endlichkeit.
Ein Spiegel der Füssener Seele
Warum solltest du dir das antun? Weil es ehrlich ist. Das Allgäu ist nicht nur Kuhglocken und Bergkäse. Es ist eine raue Gegend. Die Winter waren lang, das Leben hart, der Boden karg. Der Glaube war oft das Einzige, woran man sich festhalten konnte. Der Totentanz von Füssen ist der Beweis für eine tiefe Frömmigkeit, die aber nie naiv war. Die Menschen wussten: Am Ende sind wir alle gleich Asche.
Interessant ist auch der künstlerische Aspekt. Hiebeler war kein Dürer oder Michelangelo. Er war ein Handwerker. Man sieht das an den Proportionen, die manchmal nicht ganz stimmen, oder an den etwas steifen Bewegungen der Lebenden. Aber der Tod, der bewegt sich dynamisch. Der springt, der zieht, der tanzt wirklich. Das verleiht dem Ganzen eine makabre Lebendigkeit. Manchmal, wenn man lange genug draufstarrt, meint man fast, die Knochen klappern zu hören.
Praktische Tipps für den Besuch
Das Museum der Stadt Füssen im Kloster St. Mang ist ein ziemlicher Brocken. Viele rennen nur schnell durch die prunkvollen Barocksäle – die übrigens auch fantastisch sind, vor allem der Kaisersaal mit seiner optischen Täuschung an der Decke – und übersehen den Totentanz fast. Mach das nicht.
- Kauf dir das Kombiticket. Damit kommst du auch ins Hohe Schloss nebenan. Dort gibt es die Staatsgalerie, aber für das echte Gänsehaut-Feeling ist St. Mang zuständig.
- Geh unter der Woche, wenn möglich. An verregneten Novembertagen ist die Stimmung am besten, fast schon unheimlich. Im Hochsommer, wenn sich Busladungen durchschieben, geht viel von der stillen Kraft verloren.
- Die Öffnungszeiten ändern sich saisonal (im Winter oft montags zu, und kürzer offen). Check das vorher online, sonst stehst du vor verschlossener Pforte, und das ist dann dein ganz persönlicher "Du kommst hier nicht rein"-Moment.
Und noch ein kleiner Rat am Rande: Das Museum hat eine der besten Sammlungen historischer Lauten und Geigen in Europa. Füssen war die Wiege des Lautenbaus, noch vor den Italienern. Schau dir das nach dem Totentanz an. Es ist tröstlich zu sehen, dass zwar die Menschen sterben, aber die Musik und die Instrumente überdauern. Das hätte vielleicht auch Jakob Hiebeler gefallen.
Der Tod als Touristenschreck?
Manche Einheimische zucken mit den Schultern, wenn man sie auf den Totentanz anspricht. "Ja mei, der hängt halt da", sagen sie vielleicht. Für sie ist das Teil des Inventars. Aber für Kunsthistoriker ist das Ding ein Juwel. Es ist der älteste erhaltene monumentale Totentanz in Bayern. Es gibt ähnliche Werke in Lübeck oder Basel (wobei der Basler weitgehend zerstört ist), aber der Füssener hat seine ganz eigene, süddeutsche Note. Er ist weniger intellektuell verkopft, dafür direkter. Er packt dich am Kragen.