Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Bergkäse-Stinker: Der Allgäuer Weißlacker ist nichts für schwache Nerven

Hier kommt der Endgegner der Käseplatte. Der Allgäuer Weißlacker ist ein kulinarischer Faustschlag, der die Geister scheidet wie kaum ein anderes Lebensmittel. Wer sich traut, findet hinter der beißenden Fassade ein Stück bayerische Kulturgeschichte.

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Zwischenablage

Das Allgäu. Eine Idylle wie aus dem Bilderbuch. Doch wer in den Dorfläden oder auf den Wochenmärkten zwischen Oberstdorf und Kempten tief einatmet, dem steigt gelegentlich ein Geruch in die Nase, der so gar nicht zu den lieblichen Blumenwiesen passen will. Es riecht streng. Nein, seien wir ehrlich: Es stinkt. Ein bisschen nach Stall, ein bisschen nach Ammoniak, und für ungeübte Nasen vielleicht sogar nach etwas, das man lieber nicht im Kühlschrank vergessen hätte. Herzlichen Glückwunsch, du hast soeben Bekanntschaft mit dem Allgäuer Weißlacker gemacht. Er ist der Punkrocker unter den Käsesorten. Laut, unangepasst und definitiv nichts für den Mainstream.

Während sich Touristen oft auf den gefälligen Bergkäse stürzen, der mit seinen nussigen Aromen niemanden vor den Kopf stößt, greift der Einheimische klammheimlich zum Weißlacker. Oder "Weißschmierer", wie manch alter Bauer ihn nennt. Dieser Käse polarisiert nicht nur, er spaltet Familien am Abendbrottisch. Die einen lieben ihn abgöttisch für seine brutale Würze, die anderen flüchten beim Öffnen der Käseglocke panisch aus der Küche. Dazwischen gibt es nichts. Wer diesen Käse probiert, der sucht kein feines Gaumenerlebnis für den Chardonnay, sondern ein echtes Abenteuer.

Ein Würfel mit königlichem Siegel

Es ist eigentlich kurios. Ausgerechnet dieser rustikale Stinkerkäse trägt einen Titel, den sonst kaum ein Lebensmittel für sich beanspruchen darf. Er ist weltweit der erste Käse, der jemals ein königliches Patent erhielt. Wir schreiben das Jahr 1874. In Wertach, einem kleinen Ort im Oberallgäu, tüftelten die Brüder Josef und Anton Kramer an einer Käsesorte, die anders sein sollte. Sie wollten keinen Hartkäse, der ewig reifen muss, aber auch keinen Weichkäse, der sofort davonläuft. Das Ergebnis war ein quaderförmiger Backsteinkäse mit einer fast lackartigen, weißen Schmiere auf der Oberfläche.

Die Brüder wussten, dass sie da etwas Besonderes in den Kesseln hatten. Also marschierten sie zur Obrigkeit und ließen sich ihre Erfindung schützen. Für 15 Jahre erhielten sie das "Königlich Bayerische Patent" auf die Herstellung. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Käse, so einzigartig, dass der König seine schützende Hand drüberhält. Bis heute darf der echte Weißlacker nur im Allgäu hergestellt werden, und seit 2015 trägt er auch das EU-Siegel der geschützten Ursprungsbezeichnung (g.U.). Er ist also ein echtes Original, das sich nicht kopieren lässt. Wobei man sich fragen darf, ob es überhaupt viele Versuche gab, diesen Geruch zu kopieren. Die Rezeptur ist im Grunde simpel: Kuhmilch, Lab, Kulturen und eine Menge Salz. Aber wie so oft liegt das Geheimnis in der Zeit und der Behandlung. Und vielleicht in der sturen Allgäuer Luft.

Weißer Lack und scharfer Kern

Schauen wir uns den Burschen mal genauer an. Er kommt meist als quadratischer Block daher, oft in Folie eingeschweißt, was wohl auch eine Sicherheitsmaßnahme für die Umgebung ist. Packt man ihn aus, glänzt die Rinde feucht und weißlich, fast wie lackiert. Daher der Name. Weißlacker. Klingt logisch. Schneidet man ihn an, was übrigens ein gutes Messer erfordert, da die Konsistenz je nach Reifegrad zwischen speckig-fest und leicht bröckelig variieren kann, sieht man das Innere: hell, fast weiß, ohne Löcher. Unschuldig sieht er aus. Ein Wolf im Schafspelz.

Der Geschmack ist schwer zu beschreiben, ohne medizinische Begriffe zu verwenden. Er ist extrem salzig. Der Salzgehalt liegt bei rund fünf Prozent, was für einen Käse enorm ist. Dazu kommt eine Schärfe, die nicht wie Chili brennt, sondern eher wie ein sehr scharfer Rettich in die Nase zieht. Nach etwa 12 bis 15 Monaten Reifezeit hat der Käse fast keinen Milchzucker mehr. Der ist komplett abgebaut. Das macht ihn für laktoseintolerante Menschen sehr verträglich, sofern sie den Geschmack überleben. Es ist ein "Männerkäse", sagen die Alten hier am Stammtisch. Wobei das natürlich Quatsch ist, denn es gibt genug Allgäuerinnen, die den Weißlacker genauso wegputzen. Aber er hat dieses Image des Derben, des Kräftigen. Nichts für "Gschnappige", also wählerische Esser.

Die hohe Kunst des Verzehrs

Wie isst man das Ding nun, ohne einen olfaktorischen Schock zu erleiden? Bloß nicht pur. Wer sich ein dickes Stück Weißlacker ohne Beilage in den Mund schiebt, wird das bereuen. Die Zunge zieht sich zusammen, der Durst setzt augenblicklich ein. Die Allgäuer haben da ihre Techniken entwickelt. Die wichtigste Zutat beim Weißlacker-Essen ist Butter. Viel Butter. Und zwar gute Bauernbutter.

Man nehme eine Scheibe frisches, dunkles Holzofenbrot. Darauf kommt eine faustdicke Schicht Butter. Und erst darauf legt man dünne Scheiben oder kleine Würfel vom Weißlacker. Das Fett der Butter ummantelt die Salzkristalle und die Schärfe, es puffert den Geschmack ab und macht ihn erträglich, ja sogar harmonisch. Dazu gehören frische Zwiebelringe, vielleicht etwas Paprikapulver und ganz dringend ein Getränk. Wein hat hier nichts verloren. Ein herbes Pils oder ein dunkles Lagerbier sind die einzigen akzeptablen Begleiter. Die Kohlensäure und der Malzgeschmack spülen die salzige Note runter und bereiten den Gaumen auf den nächsten Bissen vor. Ein Radler geht zur Not auch, aber sag das bloß nicht laut im Wirtshaus.

Die Geheimwaffe in den Kässpatzen

Es gibt noch eine zweite Verwendung, die vielleicht sogar die wichtigere ist, auch wenn viele Touristen das gar nicht wissen. Wenn du in einer Allgäuer Hütte Kässpatzen bestellst und denkst: "Mensch, die sind aber würzig, warum schmecken meine daheim nie so?", dann ist die Antwort fast immer Weißlacker. Er ist das geheime Gewürz, der Turbo für die Spätzle. Eine gute Mischung besteht oft aus viel Emmentaler für die Fäden, Bergkäse für die Grundwürze und einer kleinen Menge Weißlacker für den Kick. Wirklich nur eine kleine Menge. Er wirkt wie ein Geschmacksverstärker.

Köche im Allgäu hüten ihr Mischungsverhältnis wie einen Staatschatz. Aber wenn du genau hinschmeckst, diese pikante Note im Abgang, die dich sofort zum Bierglas greifen lässt, das ist er. Manche reiben ihn direkt in die heißen Spätzle, andere schmelzen ihn vorher an. Der Effekt ist derselbe. Er macht aus einem simplen Nudelgericht eine deftige Mahlzeit, die noch Stunden später satt macht. Man sagt ihm nach, er sei ein "Magenaufräumer". Nach einem schweren Essen soll ein kleines Stückchen Weißlacker die Verdauung anregen. Ob das wissenschaftlich haltbar ist, sei dahingestellt, aber der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, oder in diesem Fall Käselaibe.

Wo man den Mutigen findet

Wer jetzt Blut geleckt hat und sich dieser Herausforderung stellen will, muss nicht lange suchen. Jeder gut sortierte Supermarkt im Allgäu führt ihn im Kühlregal. Meistens liegt er etwas abseits vom milden Butterkäse, oft in der Nähe vom Romadur oder Limburger, seinen etwas milderen Cousins. Aber für das wahre Erlebnis solltest du eine der Sennereien besuchen, etwa direkt in Wertach oder in den umliegenden Dörfern. Dort bekommst du ihn oft direkt aus dem Reifekeller, noch nicht in Plastik erstickt, sondern in seiner vollen, duftenden Pracht.

Interessant ist auch der Vergleich mit dem "Münchner Bierkäse". Oft werden die beiden verwechselt oder in einen Topf geworfen. Tatsächlich ist der typische Bierkäse oft eine Mischung, in der Weißlacker enthalten ist, oder ein Käse nach ähnlicher Machart, aber oft etwas weniger lang gereift und daher milder. Der echte Weißlacker spielt in einer eigenen Liga. Er ist quasi das Konzentrat. Wenn du ihn kaufst, noch ein praktischer Tipp: Transportiere ihn niemals, wirklich niemals, ohne luftdichten Behälter im Auto. Schon gar nicht im Sommer. Der Geruch setzt sich in den Polstern fest und bleibt dir als unfreiwilliges Souvenir noch wochenlang erhalten. Eine gute Tupperdose, am besten noch in einer Tüte, ist Pflicht.

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