Man fährt leicht daran vorbei. Die B19 ist eine Schnellstraße, die wie eine Ader das Allgäu durchschneidet, und die meisten Touristen haben nur ein Ziel vor Augen: die prominenten Gipfel rund um Oberstdorf. Dabei lassen sie Sonthofen links liegen, was ein Fehler ist, wenn man das Allgäu jenseits von Souvenirläden und überteuerten Cafés erleben will. Sonthofen, die südlichste Stadt Deutschlands, buhlt nicht um Aufmerksamkeit wie eine Diva, sondern steht solide da wie ein alter Bergführer, der schon alles gesehen hat. Hier prallen Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Auszeichnung „Alpenstadt des Jahres“, die sich die Kommune schon 2005 ans Revers heften durfte, und auf der anderen Seite eine spröde Funktionalität, die durch die militärische Geschichte und die Rolle als Einkaufszentrum für die Region geprägt ist. Wer hier aussteigt, riecht nicht sofort Alpenblumen. Manchmal riecht es nach Diesel, nach frisch gebrautem Bier von der Hirsch-Brauerei oder nach der feuchten Kühle, die von der Iller heraufzieht.
Die Stadt liegt in einem Talkessel, eingeklemmt zwischen den Sonnenköpfen und dem Grünten. Letzterer ist omnipräsent. Man kann in Sonthofen kaum eine Straße entlanggehen, ohne dass dieser Berg, der „Wächter des Allgäus“, irgendwo im Blickfeld auftaucht. Er wirkt nicht bedrohlich, eher wie eine konstante Erinnerung daran, wo man sich eigentlich befindet. Sonthofen ist nämlich keine Puppenstube. Es ist eine Stadt mit knapp über 20.000 Einwohnern, die morgens zur Arbeit gehen, im Stau stehen und ihre Kinder zur Schule bringen. Genau das macht den Reiz aus. Du bist hier kein wandelnder Geldbeutel, sondern einfach ein Gast in einem funktionierenden Alltag.
Outdoor-Kompetenz: Mehr als nur Marketing
Wenn Einheimische neue Bergschuhe brauchen, fahren sie nicht nach München. Sie bleiben hier. Die Dichte an Sportgeschäften ist in Sonthofen fast schon absurd hoch. Das hat Tradition. In der Fußgängerzone und den umliegenden Straßen reiht sich ein Outlet an das nächste Fachgeschäft. Das ist kein Zufall, denn die Kompetenz in Sachen Outdoor ist hier historisch gewachsen. Viele Bergführer und Skilehrer haben hier ihre Basis. Das Equipment, das du hier kaufst, wurde oft von den Verkäufern am Wochenende selbst am Berg geschunden. Beratung ist hier oft weniger Verkaufsgespräch als ein Fachsimpeln unter Leidensgenossen, die wissen, wie sich eine Blase an der Ferse nach 1500 Höhenmetern anfühlt.
Doch Ausrüstung allein macht noch kein Erlebnis. Sonthofen dient als perfektes Basislager. Du startest hier zentral. Radfahrer nutzen die Stadt als Nadelöhr für Touren in die Seitentäler, ins Ostrachtal oder hinüber in Richtung Bodensee. Im Sommer sieht man Horden von Rennradfahrern, die sich an der Ampelkreuzung die Waden massieren, bevor sie den Riedbergpass in Angriff nehmen. Mountainbiker finden rund um den Grünten Trails, die technisch fordernd sind und matschig genug, um danach wie ein paniertes Schnitzel auszusehen. Es ist diese Unmittelbarkeit, die Sonthofen auszeichnet. Du musst nicht erst stundenlang anreisen. Du fällst quasi aus der Haustür direkt in das Abenteuer. Oder in den Matsch, je nach Wetterlage.
Die Starzlachklamm: Lautes Naturschauspiel
Apropos nass werden. Ein absolutes Muss, und das ist keine Übertreibung, ist die Starzlachklamm am Fuße des Grünten. Aber Vorsicht: An schönen Sommertagen schieben sich die Menschenmassen hier durch wie auf einem Schlussverkauf-Wühltisch. Klüger ist es, früh morgens zu gehen oder wenn das Wetter „a bisserl greislig“ ist, wie der Allgäuer sagt. Dann gehört die Klamm fast dir allein. Das Wasser der Starzlach hat sich hier über Jahrtausende in den Fels gefressen und eine Landschaft hinterlassen, die fast schon surreal wirkt.
Du startest im Ortsteil Winkel. Schon der Weg dorthin führt vorbei an Wiesen, die so grün sind, dass es fast in den Augen wehtut. Sobald du die Klamm betrittst, ändert sich die Akustik. Das Rauschen schwillt zu einem Tosen an. Das Wasser stürzt über Kaskaden, wirbelt in Gumpen und schießt durch Engstellen. Die Wege sind teilweise in den Fels gehauen, gesichert mit Geländern, aber der Boden ist oft glitschig. Gutes Schuhwerk ist hier keine Empfehlung, sondern Lebensversicherung. Wer hier mit Flipflops aufläuft, erntet zu Recht spöttische Blicke. Besonders beeindruckend ist der Abschnitt, wo die Wände so eng zusammenrücken, dass das Sonnenlicht nur noch spärlich bis zum Boden dringt. Es riecht nach Moos, kaltem Stein und Gischt. Ein Naturerlebnis, das Demut lehrt, auch wenn man sich den Weg mit anderen teilen muss.
Beton und Geschichte: Die Ordensburg
Sonthofen hat aber auch eine dunkle, massive Seite, die man nicht ignorieren kann und darf. Über der Stadt thront die Generaloberst-Beck-Kaserne, ehemals die NS-Ordensburg Sonthofen. Dieser gewaltige Komplex wurde von den Nationalsozialisten gebaut, um ihre Elite zu schulen. Die Architektur ist einschüchternd. Wuchtig, monumental, gebaut für die Ewigkeit und um das Individuum klein erscheinen zu lassen. Heute nutzt die Bundeswehr das Gelände. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man unten in der Stadt steht und zu diesem Koloss hinaufblickt. Er gehört zum Stadtbild, so wie der Kirchturm St. Michael, aber er erzählt eine ganz andere Geschichte.
Führungen durch die Kaserne sind möglich, aber reglementiert. Wer sich für Geschichte interessiert, sollte diese Gelegenheit beim Schopf packen. Es ist beklemmend und faszinierend zugleich, durch diese Hallen zu gehen, die so viel Ideologie atmen. Der Kontrast zum gemütlichen, manchmal etwas verschlafenen Stadtkern könnte härter nicht sein. Unten die bayerische Gemütlichkeit mit Lüftlmalerei, oben die strenge Geometrie des Totalitarismus. Sonthofen versteckt dieses Erbe nicht, sondern lebt damit. Das zeugt von einem reifen Umgang mit der eigenen Historie, etwas, das mancherorts im Alpenraum gerne unter den Teppich gekehrt wird.
Heimathaus und Egga-Spiel: Tradition ohne Kitsch
Wer nach dem Betonklotz etwas für die Seele braucht, sollte das Heimathaus Sonthofen im Auge behalten. Es ist eines dieser Museen, die von außen unscheinbar wirken, drinnen aber so vollgestopft sind mit Geschichte, dass man Stunden dort verbringen kann. Hier geht es um das harte Leben der Bergbauern, um Geologie und natürlich um die Entwicklung der Stadt. Es ist alles etwas staubig, aber liebevoll. Man lernt hier, dass das Allgäu früher ein verdammt armes Land war. Die Romantik, die wir heute in alte Bauernhäuser hineininterpretieren, war für die Bewohner damals oft nur kalter Zugwind und harte Arbeit.
Alle drei Jahre, und da muss man Glück haben mit dem Reisezeitpunkt, dreht die Stadt ein bisschen durch. Dann ist „Egga-Spiel“. Ein Fasnachtsbrauch, der seine Wurzeln tief in der heidnischen Vergangenheit hat. Hexen, wilde Gestalten und der Kampf des Frühlings gegen den Winter werden hier nicht als touristische Show inszeniert, sondern mit einer Inbrunst, die Außenstehende manchmal verstört. Da knallt die Peitsche, da wird geschrien und gelacht. Es ist roh und laut. „Luag mol“, sagt dann vielleicht der Nebenmann und deutet auf eine besonders gruselige Maske. Wer das erlebt, spürt, dass Tradition hier nicht nur für den Katalog gepflegt wird.
Der stille Nachbar: Hinanger Wasserfall
Während alle zur Starzlachklamm rennen, gibt es einen Ort, der fast noch magischer ist, aber weniger überlaufen. Der Hinanger Wasserfall. Er liegt etwas versteckt im Ortsteil Hinang. Der Weg dorthin ist kurz, aber knackig. Im Sommer ist es ein kühler Rückzugsort. Das Wasser fällt über eine Tuffsteinkante tief hinab. Aber der eigentliche Geheimtipp ist der Winter. Wenn es lange genug friert, verwandelt sich der Wasserfall in eine Kathedrale aus Eis. Riesige Zapfen, die in der Wintersonne bläulich schimmern, bilden einen Vorhang. Man steht davor und vergisst, dass einem die Zehen langsam abfrieren. Es ist einer dieser Orte, die man eigentlich niemandem verraten will, damit sie so bleiben, wie sie sind. Aber Sonthofen teilt gerne.
Kulinarik: Bodenständig statt Sterne-Küche
Essen muss man auch. In Sonthofen sucht man die ganz große Haute Cuisine eher vergeblich, und das ist auch gut so. Hier regiert die deftige Küche. Kässpatzen sind Grundnahrungsmittel. Aber Vorsicht: Ein Teller Kässpatzen im Allgäu ist keine Beilage, sondern eine Herausforderung. Echte Kässpatzen schwimmen nicht in Sahne, sondern ziehen Fäden, bis der Arzt kommt, und sind bedeckt mit so vielen Röstzwiebeln, dass man am nächsten Tag noch was davon hat. Dazu ein Bier. Sonthofen hat eine starke Brauerei-Tradition. Das „Hirschbräu“ ist allgegenwärtig. Man setzt sich in eine der Gaststuben, oft an Holztische, die schon so manche Wirtshausrauferei überlebt haben könnten. Die Bedienungen sind oft herzlich, aber direkt. Wer lange in der Karte blättert, kriegt vielleicht einen Spruch gedrückt. Aber das gehört dazu. Man kommt schnell ins Gespräch, oft sitzt man eh an großen Tischen zusammen.