Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Lautlose Spuren im Schnee: Schneeschuhwandern im Gunzesrieder Tal

Wer im Gunzesrieder Tal die Schneeschuhe anschnallt, tauscht Hektik gegen brennende Waden und eine Portion Einsamkeit, die fast schon in den Ohren dröhnt. Ein Wintermärchen ohne Kitsch, dafür mit verdammt gutem Käse.

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Zwischenablage

Es knirscht. Nicht das leise Rieseln von Puderzucker auf einem Apfelstrudel, sondern ein trockenes, hartes Geräusch unter den Sohlen, sobald man aus dem Auto steigt. Gunzesrieder Säge. Der Name klingt schon so herrlich nach Handwerk und harter Arbeit, und genau hier, wo der öffentliche Straßenverkehr praktisch kapituliert, beginnt für Schneeschuhwanderer das eigentliche Allgäu. Wer weiter will, muss laufen. Oder eben stapfen. Das Gunzesrieder Tal ist eine Sackgasse, was sich zunächst wie ein planerischer Nachteil anhört, in Wahrheit aber der größte Trumpf der Gegend ist. Der Durchgangsverkehr bleibt draußen, die Hektik verfängt sich irgendwo unten in Blaichach oder Sonthofen, und was hier oben ankommt, sind Leute, die genau wissen, was sie suchen: Ruhe.

Wenn du hier stehst, den Rucksack schulterst und den ersten Atemzug nimmst, riecht die Luft anders. Nach Kälte, klar, aber auch irgendwie nach Fichtenharz und – wenn der Wind ungünstig oder günstig steht, je nach Sichtweise – nach Landwirtschaft. Das Tal liegt eingebettet in die Nagelfluhkette. Geologen bekommen feuchte Augen, wenn sie davon sprechen, für uns Normalsterbliche sieht es einfach aus wie ein riesiger, von Riesenhand zusammengebackener Kieselhaufen. „Herrgottsbeton“ sagen die Einheimischen dazu. Ein passenderer Begriff fällt einem kaum ein, wenn man die steilen Flanken betrachtet, an denen der Schnee oft waghalsig klebt.

Ausrüstung: Bloß keine Wissenschaft draus machen

Bevor wir losmarschieren, ein kurzer Blick nach unten. Schneeschuhe. Früher sahen die Dinger aus wie Tennisschläger aus einem schlechten Cartoon, heute sind es Hightech-Geräte aus Kunststoff oder Aluminium mit aggressiven Harschkrallen. Man braucht sie hier auch. Das Gelände im Gunzesrieder Tal ist nicht bloß lieblich gewellt, es kann zupacken. Wer meint, mit einfachen Winterstiefeln weit zu kommen, wird nach zwanzig Metern im Tiefschnee stecken wie ein nasser Sack Zement und fluchen. Ich habe das oft genug beobachtet, diese Mischung aus Selbstüberschätzung und nassem Hosenboden.

Was man wirklich braucht: Stöcke. Ohne Stöcke ist Schneeschuhwandern wie Suppe essen mit der Gabel – mühsam und wenig elegant. Und Gamaschen. Es gibt wenig, das die Laune schneller in den Keller treibt, als Schnee, der sich klammheimlich von oben in die Wanderschuhe schleicht und dort zu einem eisigen Klumpen mutiert. Lawinensicherheit ist auch so ein Thema. Nur weil wir hier nicht am Mount Everest sind, heißt das nicht, dass die Hänge harmlos sind. Wer die markierten Pfade verlässt und sich ins freie Gelände wagt – was ja der eigentliche Reiz ist –, sollte ein LVS-Gerät, Schaufel und Sonde nicht nur spazieren tragen, sondern sie auch bedienen können. Das ist keine Panikmache, das ist Lebensversicherung.

Der Aufstieg ins „Himmelreich“

Man muss nicht extrem religiös sein, um die Flurnamen hier zu mögen. „Himmelreich“ nennt sich ein Flecken Erde hier oben, und der Weg dorthin fordert erst einmal ein kleines Fegefeuer der Anstrengung. Wir starten an der Säge, lassen den gebührenpflichtigen Parkplatz (Kleingeld mitbringen, die Automaten sind manchmal wählerisch!) hinter uns und orientieren uns taleinwärts. Der Schnee ist hier oft tiefer als vorne am Taleingang. Das liegt an der Staulage der Berge; die Wolken bleiben hängen und laden ihre weiße Fracht genau hier ab.

Die ersten Schritte sind immer etwas ungelenk. Man geht breitbeinig, wie ein Cowboy, der sein Pferd verloren hat. Aber nach zehn Minuten findet man den Rhythmus. Klack, knirsch, atmen. Es geht vorbei an verschneiten Zäunen, die nur noch als kleine Spitzen aus der weißen Decke lugen. Der Bach, die Gunzesrieder Ach, gurgelt leise unter dicken Eisschichten. Manchmal sieht man offene Stellen, schwarz und bedrohlich kalt wirkt das Wasser da. Ein seltsamer Kontrast zur weichen Umgebung.

Das Schöne am Schneeschuhwandern im Vergleich zum Skitourengehen ist das Tempo. Oder besser: das fehlende Tempo. Du bist langsam. Zwangsläufig. Das Auge hat Zeit, Details zu erfassen, die sonst im Geschwindigkeitsrausch untergehen. Tierspuren zum Beispiel. Da ist der hektische Abdruck eines Hasen, dort die fast schnurgerade Linie eines Fuchses. Man fühlt sich wie ein Spurenleser in einem Jack-London-Roman, nur dass am Ende keine Goldmine wartet, sondern hoffentlich eine Brotzeitbank, die nicht komplett eingeschneit ist.

Naturpark mit Benimmregeln

Es wird stiller, je höher wir kommen. Die Bäume stehen dicht, ihre Äste biegen sich unter der Schneelast. Manchmal löst sich eine Ladung und staubt herab – eine kalte Dusche gratis. Wir befinden uns mitten im Naturpark Nagelfluhkette. Das ist nicht nur ein Label für Touristenbroschüren, das ist ein Schutzraum. Besonders im Winter kämpfen die Tiere hier ums Überleben. Jede Flucht kostet Energie, Energie, die das Wildbret eigentlich zum Wärmen bräuchte.

Deshalb: Bleib auf deiner Spur. Es ist verlockend, quer durch den Jungwald zu brechen, einfach weil man es kann. Aber es ist, auf gut Allgäuerisch gesagt, a rechter Schmarrn. Besonders das Birkhuhn, ein scheuer Bewohner dieser Zone, reagiert extrem empfindlich auf Störungen. Man sieht sie fast nie, diese Vögel, aber sie sind da. Wer die ausgewiesenen Wald-Wild-Schongebiete missachtet, ist kein Entdecker, sondern ein Störfaktor. Die Ranger hier verstehen da (zurecht) keinen Spaß. Respekt vor dem Berg heißt eben auch, sich mal zurückzunehmen.

Lichtspiele und Gipfelblicke

Sobald wir die Baumgrenze erreichen oder sich der Wald lichtet, ändert sich die Szenerie schlagartig. Das Licht wird gleißend. Ohne Sonnenbrille ist man jetzt aufgeschmissen, schneeblind in Minuten. Vor uns baut sich die Kulisse der Allgäuer Hochalpen auf. Man sieht rüber zum Stuiben oder zum Mittagberg. Im Sommer sind das gut besuchte Wanderziele, jetzt im Winter wirken die Grate messerscharf und unnahbar. Der Schnee verzeiht dem Gelände keine Unebenheiten, er glättet alles zu weichen Wellen, unter denen man die Felsen nur erahnen kann.

Hier oben im „Himmelreich“ (oder auf dem Weg zur Alpe Scheidwang, je nachdem, welche Schleife man genau zieht) spürt man die Weite. Es ist ein befreiendes Gefühl. Kein Liftmasten surrt, kein Après-Ski-Bass wummert herüber. Das einzige Geräusch ist der eigene Puls und der Wind, der in den Ohren pfeift. Manchmal, wenn man stehen bleibt, hört man absolut nichts. Diese Art von Stille ist selten geworden in Mitteleuropa. Sie drückt fast ein bisschen auf das Trommelfell. Es ist der Moment, in dem man begreift, warum man sich die Plackerei angetan hat.

Die Sache mit dem Käse

Der Rückweg geht schneller, aber er geht in die Knie. Bergab mit Schneeschuhen ist eine Technik für sich. Man muss sich trauen, sich leicht nach hinten zu lehnen und die Fersen in den Schnee zu rammen, fast so, als würde man rutschen wollen, aber kontrolliert. Wenn man es raus hat, ist es ein Heidenspaß, ein fast schwereloses Gleiten. Wenn nicht, nun ja, landet man wieder auf dem Hosenboden. Schnee putzen gehört dazu.

Aber Gunzesried wäre nicht Gunzesried, wenn es nur um Sport ginge. Das Tal nennt sich „Kräuterdorf“. Im Winter sieht man von den Kräutern herzlich wenig, logisch, die schlafen unter zwei Metern Schnee. Aber man schmeckt sie. Und zwar in der Milch und im Käse. Die Sennerei Gunzesried ist quasi der gesellschaftliche Mittelpunkt des Tals. Es ist eine der ältesten Sennereien Bayerns, die noch Heumilchkäse produziert.

Nach drei, vier Stunden in der Kälte gibt es nichts, absolut nichts Besseres, als in eine warme Stube zu fallen. Sei es nun direkt in einem Gasthof im Tal oder man kauft sich ein Stück Bergkäse für zuhause. Der Geschmack ist kräftig, würzig, nichts für Zartbesaitete. Er schmeckt nach den Wiesen, über die man im Sommer wandern würde. Einheimische sagen oft „Luag na“, wenn sie auf etwas Besonderes deuten wollen. Hier muss man nicht schauen, hier muss man probieren. Ein Stück Allgäuer Emmentaler oder ein rässerer Bergkäse füllt die Speicher schneller auf als jeder Energieriegel aus dem Chemielabor.

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