Es beginnt mit einem Geräusch. Nicht das dumpfe Knacken eines gewöhnlichen Brötchens und schon gar nicht das weiche Nachgeben eines Milchweckens. Wenn du in eine echte Allgäuer Seele beißt, muss es splittern. Ein lautes, trockenes Krachen, das signalisiert: Die Kruste hat den Kampf gegen die Hitze gewonnen. Erst danach erreichen die Zähne den Kern, und der ist das genaue Gegenteil. Feucht, fast schon ein wenig speckig, mit riesigen Poren, in denen sich Butterentdecker verlieren können. Diese Dualität aus extrem kross und innen saftig macht den Charakter dieses Gebäcks aus. Es ist keine Schönheit im klassischen Sinn. Eine Seele ist oft krumm, unterschiedlich dick, manchmal an den Enden fast verbrannt und mit grobem Salz sowie Kümmel übersät, der beim Reinbeißen unweigerlich herunterfällt. Aber genau diese Unperfektheit ist das Qualitätsmerkmal. Wer eine schnurgerade, gleichmäßig gebräunte Stange beim Bäcker sieht, sollte misstrauisch werden. Da war vermutlich eine Maschine am Werk, und Maschinen verstehen die Seele nicht.
Man muss verstehen, dass die Seele im Allgäu und in Oberschwaben Grundnahrungsmittel und Kulturgut zugleich ist. Sie ist das Baguette des Südens, nur eben rustikaler, ehrlicher und mit mehr Biss. Während das Baguette oft luftig und leicht daherkommt, bringt die Seele durch den hohen Dinkelanteil und die lange Teigführung eine gewisse Schwere und Würze mit. Sie sättigt anders. Wer zwei davon zum Frühstück verdrückt, braucht bis zum Nachmittag nichts mehr. Und sie fordert den Esser heraus. Der Kümmel ist dabei so eine Sache. Man liebt ihn oder man hasst ihn. Für Puristen gehört er zwingend dazu. Er gibt dem hellen Teig die nötige erdinge Note und hilft, wie die Großmutter schon wusste, der Verdauung auf die Sprünge. Es gibt mittlerweile Varianten ohne, aber das fühlt sich für Einheimische oft an wie ein Auto ohne Räder.
Ein Teig, der machen darf, was er will
Die Magie liegt in der Feuchtigkeit. Bäcker nennen das eine hohe Teigausbeute. Laien würden sagen: Der Teig ist eine ziemlich batzige Angelegenheit. Er besteht traditionell aus Dinkelmehl, Wasser, Salz, Hefe und manchmal einem Hauch Schmalz. Das Geheimnis ist das Wasser. Ein Seelen-Teig ist so weich, dass man ihn nicht einfach formen kann wie eine Brezel. Er würde einem durch die Finger rinnen. Früher, und in guten Handwerksstuben auch heute noch, wurde der Teig "genetzt". Das bedeutet, der Bäcker taucht die Hände in Wasser, greift eine Portion der glitschigen Masse und zieht sie in die Länge direkt auf den Schieber oder das Blech. Durch dieses nasse Bearbeiten entsteht beim Backen die charakteristische, glänzende Oberfläche und der wilde Ausbund, also die Art und Weise, wie das Gebäck im Ofen aufreißt.
Industriebäckereien haben damit ihre liebe Not. Ihre Maschinen verkleben bei so viel Wasser. Deshalb wird dort oft getrickst, der Wasseranteil reduziert und mehr Chemie eingesetzt, damit die Form hält. Das Ergebnis ist dann oft nur ein langes, trockenes Brötchen, das den Namen Seele eigentlich nicht verdient. Eine echte Seele hat innen eine wilde Porung. Da sind Löcher drin, groß wie Daumenkuppen. Das nennt man fachsprachlich eine "wilde Krumenstruktur". Wenn du die Seele aufschneidest und sie sieht innen aus wie Toastbrot – engporig und wattig –, dann wurdest du übers Ohr gehauen. Das Innere muss glänzen, fast schon gelatinös wirken, dann ist es richtig. Es ist diese Feuchtigkeit, die dafür sorgt, dass eine Seele auch am Abend noch schmeckt, wenn man sie kurz aufbäckt, während eine normale Semmel längst zur Waffe geworden wäre.
Woher das Ding eigentlich kommt
Wie bei vielen alten Rezepten ranken sich Legenden um den Ursprung. Die plausibelste Spur führt ins benachbarte Oberschwaben, genauer nach Ravensburg, und weit zurück in die Geschichte, vielleicht bis in den Dreißigjährigen Krieg. Eine Geschichte erzählt von einem Bäcker, der in Notzeiten das Gelübde abgelegt haben soll, jedes Jahr zu Allerseelen Brote an die Armen zu verteilen. Da Mehl knapp war und die Zeit drängte, machte er den Teig sehr weich, um das Mehl zu strecken, und formte lange Stücke, die wie betende Hände aussahen. Oder wie Knochen? Da scheiden sich die Geister. Der Name "Seele" verweist jedenfalls recht eindeutig auf den kirchlichen Feiertag Allerseelen, an dem man der Verstorbenen gedenkt. Dass aus einem Trauergebäck ein Alltagssnack wurde, der heute vor allem mit Freude und Genuss verbunden wird, ist eine dieser schönen Ironien der Geschichte.
Interessant ist die geografische Verbreitung. Die Seele ist ein lokaler Patriot. Man findet sie im Allgäu, in Oberschwaben und Teilen der Schwäbischen Alb. Sobald man aber den Lech überschreitet und ins "bayerische" Bayern Richtung München kommt, wird die Luft dünn. Dort regiert die Brezel und die Semmel. Die Seele ist dort oft unbekannt oder wird als exotisches Importgut gehandelt. Wer also in München eine "Seele" bestellt, erntet oft nur verständnislose Blicke. Das macht sie zu einem echten Identitätsmarker für die Region westlich des Lechs. Sie markiert die Grenze zwischen dem alemannischen und dem bajuwarischen Sprach- und Kulturraum fast besser als jeder Dialekt.
Die Kultur des Überbackens
Man kann die Seele pur essen, mit Butter bestrichen (wobei die Butter dann durch die großen Löcher auf die Hose tropft), aber ihre wahre Bestimmung findet sie oft im Ofen der örtlichen Gastwirtschaften und Bistros. Die "überbackene Seele" ist der Fast-Food-König des Allgäus. Lange bevor Döner und Burger die Fußgängerzonen eroberten, gab es die überbackene Seele. Das Prinzip ist simpel, aber genial: Die Seele wird aufgeschnitten, beide Hälften werden belegt – meist mit Schinken, Salami oder Rauchfleisch – und dann unter einer dicken Decke aus Allgäuer Bergkäse begraben. Ab in den Ofen, bis der Käse blubbert und braune Blasen wirft.
Das Resultat ist mächtig. Fettig, salzig, knusprig. Es ist das ideale Essen nach einer langen Bergtour, wenn der Körper nach Salz schreit, oder als Grundlage vor einem langen Abend im Bierzelt. Es gibt mittlerweile unzählige Varianten: mit Zwiebeln, mit Pilzen, vegetarisch mit Gemüse, scharf mit Peperoni. Aber der Klassiker bleibt Schinken-Käse. Wichtig ist dabei die Qualität des Käses. Wenn da bloß geschmackloser Edamer drauf liegt, ist das ein kulinarisches Verbrechen. Es muss schon ein würziger Emmentaler oder besser noch ein kräftiger Bergkäse sein, der gegen den Kümmel anstinken kann. In Wangen, Isny oder Leutkirch findet man kaum ein Café, das diese Delikatesse nicht auf der Karte hat. Ein Geheimtipp ist es, die Seele als "Briegel" zu bestellen, wenn man etwas weiter nördlich Richtung Schwäbische Alb unterwegs ist. Der Briegel ist der dicke, etwas unförmigere Bruder der Seele, noch breiter, noch rustikaler, aber geschmacklich in der gleichen Liga.
Wo man die Besten findet
Jetzt wird es subjektiv, aber das lässt sich beim Essen ja kaum vermeiden. Um eine wirklich gute Seele zu finden, muss man oft die Hauptstraßen verlassen. Die großen Kettenbäcker, die ihre Teiglinge aus der Zentrale bekommen, sind meist die falsche Adresse. Man sucht nach Bäckereien, die noch "Backstube" im Namen tragen und wo es morgens um vier Uhr nach Hefe riecht, wenn man vorbeiläuft. Ein gutes Indiz ist oft die Auslage: Liegen die Seelen alle exakt gleich da wie Zinnsoldaten? Dann weitergehen. Liegen sie kreuz und quer, ist eine dicker als die andere und sieht man das grobe Salz funkeln? Dann rein da.
Im Allgäu gibt es noch einige dieser Bastionen. In Kempten beispielsweise lohnt sich der Weg zu den älteren Bäckereien in der Stiftstadt. Auch in den kleineren Orten wie Weitnau oder Missen gibt es Dorfbäcker, die das Handwerk noch verstehen. Ein Name, der unter Kennern oft fällt, ist die Bäckerei Mayer in Isny (wobei es dort mehrere Mayers gibt, man muss den richtigen erwischen, den Traditionellen). Aber eigentlich braucht man keine Namen, man braucht Augen und eine Nase. Eine gute Seele riecht man. Sie duftet malzig, ein bisschen verbrannt und intensiv nach Kümmel. Wenn du sie kaufst, sollte sie noch warm sein. Dann ist die Kruste am besten. Steck sie nicht in eine Plastiktüte, das ist der Tod für die Knusprigkeit. Eine Papiertüte muss es sein, und die lässt man am besten oben offen, damit das Gebäck atmen kann. Und wenn dann im Auto der ganze Beifahrersitz voller Salz und Kümmel ist, weißt du: Das war ein guter Kauf.