Das Allgäu hat ein Luxusproblem. Alle Welt rennt zu dem einen Schloss, das jeder kennt, jenem weißen Riesen, den ein menschenscheuer König im 19. Jahrhundert in die Felsen kleben ließ. Dabei ist das eigentlich nur Theaterkulisse. Wenn du aber wissen willst, wie sich das Mittelalter wirklich anfühlte, wie kalt Steinmauern sein können und wie mühsam es war, Macht zu demonstrieren, dann musst du nach Pfronten schauen. Oder genauer: ein Stückchen nördlich davon. Dort, auf zwei benachbarten Hügelkuppen, ragen die Reste von Eisenberg und Hohenfreyberg in den weiß-blauen Himmel. Sie sind keine restaurierten Museen mit Filzpantoffeln-Pflicht. Sie sind Ruinen. Echt, unverfälscht und gerade deswegen von einer spröden Schönheit, die manchen Besucher mehr packt als jeder vergoldete Thronsaal. Es staubt hier, es ist uneben, und der Wind hat freies Spiel. Genau so muss Geschichte riechen.
Der Aufstieg: Ein bisschen Schweiß muss sein
Man bekommt diese Aussicht nicht geschenkt. Das ist die erste Lektion, die dir der Berg erteilt. Der Startpunkt für die meisten ist der kleine Ortsteil Zell, der zur Gemeinde Eisenberg gehört. Schon beim Aussteigen aus dem Auto merkst du, dass die Luft hier anders schmeckt. Ein bisschen nach Fichtenharz, ein bisschen nach Landwirtschaft, ehrlich eben. Du schnürst die Schuhe und lässt den Blick nach oben wandern. Da thronen sie schon, die zwei grauen Wächter. Der Weg führt zunächst harmlos über Wiesen, taucht dann aber in den Wald ein. Und hier wird es stellenweise ganz schön gach, wie der Allgäuer sagt – also steil. Es ist kein alpiner Klettersteig, keine Sorge, aber der Puls darf ruhig ein wenig in die Höhe schnellen.
Der Waldweg ist breit und gut befestigt, was ihn auch für weniger trittsichere Wanderer machbar macht, aber die stetige Steigung zieht sich. Manchmal knackt es im Unterholz, vielleicht ein Reh, vielleicht nur ein Wanderer, der eine Abkürzung sucht (und nicht finden wird). Das Licht bricht sich in den Nadelbäumen, und je höher du kommst, desto lichter wird der Forst. Plötzlich taucht die erste Mauer auf. Wuchtig, grau, von Moosflechten überzogen wie von einer antiken Hautkrankheit. Du bist oben. Oder zumindest fast.
Burg Eisenberg: Die ältere Schwester
Zuerst stolperst du fast zwangsläufig über die Burg Eisenberg. Sie ist die ältere der beiden Anlagen, entstanden rund um das Jahr 1315. Was sofort auffällt: Hier wurde nicht gekleckert. Die Edelherren von Eisenberg brauchten eine Festung, um ihren Besitz zu sichern, und sie bauten massiv. Wenn du durch das einstige Tor schreitest, stehst du im Innenhof einer Anlage, die über Jahrhunderte Wind und Wetter getrotzt hat. Man kann die Umfassungsmauern noch erahnen, teilweise ragen sie meterhoch auf. Es ist still hier drinnen.
Spannend ist dabei, dass diese Burg eigentlich ein klassisches Beispiel für den Burgenbau jener Zeit ist. Funktional, wehrhaft, ohne unnötigen Schnickschnack. Du kannst deine Hand auf die Steine legen und dir vorstellen, wie hier vor 600 Jahren das Leben tobte. Es war vermutlich laut, es stank nach Rauch und Tieren, und im Winter fror man sich den Hintern ab. Nichts mit Romantik. Aber genau dieses Raue, Unperfekte macht den Ort so greifbar. Kinder klettern gerne auf den niedrigen Mauerresten herum (Vorsicht ist geboten, klar), während Erwachsene oft einfach nur dastehen und versuchen, die Dimensionen zu begreifen. Die Burg war einst der Mittelpunkt der Herrschaft, heute ist sie ein Spielplatz für die Fantasie.
Hohenfreyberg: Der mittelalterliche Anachronismus
Nur fünf Gehminuten weiter wartet das eigentliche Highlight für Burgen-Nerds. Hohenfreyberg ist ein Kuriosum. Gebaut wurde sie nämlich erst zwischen 1418 und 1432 von Friedrich von Freyberg. Das klingt erst einmal nicht ungewöhnlich, aber man muss den historischen Kontext sehen: Zu dieser Zeit war die klassische Ritterburg militärisch gesehen eigentlich schon ein Auslaufmodell. Das Schießpulver begann seinen Siegeszug, Kanonen machten hohe Mauern zu einfachen Zielscheiben. Aber Friedrich war das egal. Er wollte ein Statement setzen. Er baute seine Burg ganz bewusst im Stil der Stauferzeit, also im Stil von vor 200 Jahren. Ein Retro-Bau, wenn man so will. Ein riesiges Statussymbol aus Stein, das schrie: "Ich bin wer, und ich pfeife auf eure modernen Festungsbauregeln."
Lange Zeit war Hohenfreyberg dem Verfall preisgegeben, bis man sich entschied, sie als sogenannte "wissenschaftliche Musterruine" zu sichern. Das ist ein sperriges Wort für ein geniales Konzept. Man hat nichts wiederaufgebaut, was weg war. Keine falschen Zinnen, keine historisierenden Dächer. Stattdessen wurde jeder Stein genau dort gesichert, wo er lag oder zu fallen drohte. Du siehst also den echten Bestand, konserviert im Zustand des Zerfalls. Das macht den Besuch so authentisch. Man läuft nicht durch eine Kulisse, sondern durch ein archäologisches Exponat im Maßstab 1:1. Besonders der mächtige Bergfried ist imposant, auch wenn er nicht besteigbar ist. Er wirkt wie ein steinerner Fingerzeig, der auch heute noch Eindruck schinden will.
Das sinnlose Ende: Feuer von Freunden
Wenn du zwischen den Mauern stehst, fragst du dich vielleicht, wer diese Trutzburgen eigentlich kaputt gemacht hat. Waren es die Bauern im Krieg? Die Schweden? Nein, die Geschichte hält eine bittere Ironie bereit. Es waren die eigenen Leute. Gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, im Jahr 1646, rückten die Schweden an. Die Tiroler Landesregierung, die damals das Sagen hatte, bekam Panik. Sie fürchteten, die Schweden könnten sich in den Burgen verschanzen und von dort aus das Umland terrorisieren.
Also fasste man den Beschluss der "verbrannten Erde". Die österreichischen Vorposten zündeten Eisenberg und Hohenfreyberg einfach an. Beide Burgen brannten lichterloh aus und wurden zu den Ruinen, die wir heute sehen. Die Schweden? Die zogen übrigens kurz darauf ab, ohne sich groß für die rauchenden Trümmer zu interessieren. Die Zerstörung war militärisch völlig sinnlos. Ein Treppenwitz der Geschichte, der einen heute noch kopfschüttelnd vor den schwarzen Brandspuren stehen lässt, die man mit viel gutem Willen vielleicht noch an manchem Stein zu erkennen glaubt.
Alpen-Kino vom Feinsten
Aber wir müssen ehrlich sein: Viele kommen gar nicht wegen Friedrich oder dem Dreißigjährigen Krieg. Sie kommen wegen dem, was man sieht, wenn man über die Mauerkrone blickt. Die Lage der Zwillingsburgen auf gut 1000 Metern Höhe ist ein landschaftlicher Glücksgriff. Nach Süden hin öffnet sich das Pfrontener Tal wie ein Bilderbuch. Du siehst die Tannheimer Berge, den Breitenberg, den Aggenstein. An klaren Tagen, wenn der Föhn die Luft sauber wäscht, grüßt im Hintergrund sogar die Zugspitze herüber.
Drehst du dich nach Norden, blickst du weit ins flachere Voralpenland, über den Hopfensee bis hin zum Forggensee, der wie ein blauer Spiegel in der grünen Hügellandschaft liegt. Es ist dieses Wechselspiel aus schroffen Gipfeln und sanften Wiesen, das das Allgäu so fotogen macht. Hier oben hast du den Logenplatz. Setz dich auf einen der Holzbalken oder eine trockene Stelle im Gras, pack die Wasserflasche aus und lass die Augen wandern. Kein Lärm, keine Hektik. Nur das leise Rauschen des Windes und vielleicht das entfernte Bimmeln von Kuhglocken, das hier zum guten Ton gehört wie das Amen in der Kirche.
Einkehr und Wissensdurst: Die Schlossbergalm und das Museum
Nach so viel Geschichte und Höhenluft meldet sich irgendwann der Magen. Zum Glück liegt nur ein paar Meter unterhalb der Burg Eisenberg die Schlossbergalm. Das ist kein Schickimicki-Restaurant, sondern eine ehrliche Hütte mit großer Terrasse. Wenn die Sonne scheint, ist es hier oft voll, aber man rückt zusammen. Auf der Karte steht deftige Kost. Kässpatzen, Wurstsalat, ein Radler. Nichts, was einen Stern gewinnt, aber genau das, was der Körper jetzt braucht. Es geht doch nichts über eine ordentliche Brotzeit nach einer Wanderung. Die Wirtsleute sind auf Zack, auch wenn es mal brummt.
Wer nach dem Essen noch Kapazitäten im Kopf frei hat, sollte beim Abstieg unbedingt in Zell halten. Dort gibt es das Burgenmuseum. Klingt vielleicht erst mal trocken, ist es aber nicht. Hier lagern all die Dinge, die man oben bei den Sicherungsarbeiten im Dreck gefunden hat. Kacheln von Öfen, Besteck, Waffenreste, Spielzeug. Es sind diese kleinen Gegenstände, die das abstrakte Mittelalter plötzlich menschlich machen. Man sieht einen Kamm und denkt: Okay, auch der Ritter wollte morgens gut aussehen. Das Museum ist klein, fein und gibt den Ruinen oben das nötige "Fleisch" an Informationen.
Praktische Tipps für den Besuch
Lass die Flip-Flops im Auto. Auch wenn der Weg nicht extrem lang ist, du bist in den Bergen. Feste Turnschuhe oder leichte Wanderschuhe sind Pflicht, sonst wird der Abstieg zur Rutschpartie, besonders wenn es am Vortag geregnet hat. Apropos Regen: Die Ruinen sind nach oben offen. Klingt logisch, wird aber gern vergessen. Ein Schirm ist bei Wind oben nutzlos, nimm lieber eine Regenjacke mit.
Der Eintritt zu den Ruinen selbst ist frei. Ja, du hast richtig gelesen. Du kannst jederzeit hoch, theoretisch auch zum Sonnenuntergang, was übrigens ein spektakuläres Lichtspiel bietet, wenn die alten Steine rot glühen. Aber nimm bitte deinen Müll wieder mit runter. Was du hochträgst, trägst du auch wieder zurück. Das ist der Deal mit der Natur.
Und noch ein kleiner Rat für Familien: Der Weg ist bedingt kinderwagentauglich, aber nur, wenn du geländegängige Reifen hast und über eine Kondition wie ein Ochse verfügst. Es ist einfacher, den Nachwuchs in die Kraxe zu packen oder die Kleinen laufen zu lassen – das dauert dann zwar doppelt so lange, weil jeder Käfer am Wegesrand begutachtet werden muss, aber hey, ihr seid im Urlaub, nicht auf der Flucht.