Ganz im Südwesten von Bayern, dort wo die Iller sich träge durch das Tal schiebt und die Grenze zu Baden-Württemberg oft nur einen Steinwurf entfernt ist, liegt Illerbeuren. Es ist kein Ort, der sofort ins Auge springt, wenn man auf der Karte nach den großen Alpenpanoramen sucht. Aber genau hier, etwas abseits der touristischen Rennstrecken von Oberstdorf oder Füssen, verbirgt sich das älteste Freilichtmuseum Süddeutschlands. 1955 gegründet, war es ein Pionierprojekt. Die Idee war simpel, aber radikal: Das bäuerliche Erbe zu bewahren, bevor der Wirtschaftswunder-Beton alles plattmacht. Man läuft hier nicht durch eine künstliche Kulisse. Die Gebäude stehen weit auseinander, dazwischen liegen Streuobstwiesen und Gärten, und der Kies unter den Schuhen knirscht genau so, wie er es wohl schon vor hundert Jahren getan hat.
Das Museumsgelände ist weitläufig. Es braucht Zeit, sich darauf einzulassen. Wer hier durchrennt, sieht nur altes Holz. Wer stehen bleibt, sieht Geschichte. Die Häuser stammen aus dem gesamten Allgäu, wurden an ihren Originalstandorten Balken für Balken abgetragen und hier wieder zusammengesetzt. Translozierung nennt der Fachmann das. Für den Besucher bedeutet es: Man spaziert innerhalb von Minuten vom Westallgäu ins Unterallgäu, architektonisch gesehen zumindest. Das Wetter spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle für den Eindruck. Scheint die Sonne, wirken die Bauerngärten idyllisch. Hängt der Nebel tief, was in dieser Flussregion im Herbst oft vorkommt, spürt man die Kälte und die Härte, die das Leben in diesen Gemäuern einst prägte.
Der Gromerhof: Das Herzstück am Originalplatz
Anders als die meisten anderen Gebäude, die quasi zugereist sind, ist der Gromerhof ein Einheimischer. Er steht da, wo er 1708 erbaut wurde. Er ist das Herz, um das herum das Museum gewachsen ist. Wenn Du durch die niedrige Tür trittst, musst Du den Kopf einziehen. Das ist keine Floskel, die Menschen waren kleiner, und Wärme war kostbar – hohe Decken wären Verschwendung gewesen. Im Inneren riecht es intensiv. Eine Mischung aus altem Ruß, kaltem Stein und jahrhundertealtem Fichtenholz. Der Boden ist uneben, ausgetreten von Generationen, die hier ihre Suppe löffelten oder den Rosenkranz beteten.
Spannend ist dabei die Raumaufteilung. Die Stube war der einzige beheizbare Raum, hier spielte sich das Leben ab. Direkt daneben aber lag oft der Stall. Mensch und Vieh lebten fast Wand an Wand. Das sparte Heizmaterial, denn die Körperwärme der Kühe half, das Haus im Winter frostfrei zu halten. Ein Detail, das modernen Nasen vielleicht missfallen würde, damals aber überlebenswichtig war. Ein Blick in die Schlafkammern offenbart Betten, die für heutige Verhältnisse winzig wirken. Man schlief oft halb sitzend – einerseits wegen der Verdauung, andererseits aus Angst, im Liegen dem Tod zu gleichen und nicht mehr aufzuwachen. Aberglaube war im Allgäu allgegenwärtig.
Von Söldnern und Großbauern
Das Museum leistet sich den Luxus, nicht nur den Reichtum zu zeigen. Natürlich gibt es die stattlichen Höfe mit bemalten Schränken und Zinngeschirr, die vom Wohlstand zeugen, den Flachs und später die Milchwirtschaft brachten. Aber es gibt auch die Kehrseite. Die Häuser der "Söldner" – Kleinbauern und Tagelöhner – erzählen eine ganz andere Geschichte. Hier ist alles eng, funktional, fast schon bedrückend karg. Eine Sölde aus dem 18. Jahrhundert zeigt eindrücklich, wie wenig Platz eine Familie zum Überleben hatte. Oft mussten sich diese Menschen als "Mächlar" (Handwerker) verdingen, weil der eigene Boden nicht genug abwarf, um die Mäuler zu stopfen.
Manchmal knarzt es im Gebälk, wenn der Wind durch die Ritzen pfeift. Daran merkt man, wie wenig isoliert diese Behausungen waren. Im Winter kroch die Kälte überall hin. Es ist diese ehrliche Darstellung der sozialen Schere, die Illerbeuren von manch anderem, eher folkloristisch angehauchten Heimatmuseum unterscheidet. Hier wird nicht nur gejodelt, hier wird auch geschwiegen.
Handwerk ohne doppelten Boden
Ein Dorf bestand nie nur aus Bauern. Es brauchte Infrastruktur. Illerbeuren zeigt das umfassend. Es gibt eine alte Schmiede, eine Wagnerei und sogar eine Töpferei. Letztere ist besonders relevant, da das Allgäu eine lange Tradition in der Keramikherstellung hat, auch wenn das heute kaum noch jemand weiß. In den Werkstätten stehen die Maschinen und Werkzeuge bereit, als wären die Handwerker nur kurz zur Brotzeit gegangen. Lederriemen treiben Transmissionen an, Sägespäne liegen in den Ecken.
Besonders faszinierend ist die Technik der Kraftübertragung. In einem der Gebäude findet sich ein Göpel. Das ist eine Vorrichtung, bei der Pferde im Kreis liefen, um über ein Getriebe Maschinen anzutreiben – etwa zum Dreschen. Bevor Dampfmaschinen oder Elektromotoren in die abgelegenen Täler kamen, war das High-Tech. An Aktionstagen – die Termine sollte man vor dem Besuch checken – werden diese alten Techniken wiederbelebt. Dann dampft und scheppert es, und man begreift, welch körperliche Arbeit hinter jedem Brett und jedem Hufeisen steckte.
Gärten, die schmecken und riechen
Zwischen den Häusern erstreckt sich das grüne Erbe. Die Gärten in Illerbeuren sind keine Zierde, sie sind Archive der Biodiversität. Hier wachsen alte Sorten, die im Supermarkt längst keinen Platz mehr finden, weil sie nicht normgerecht sind oder Druckstellen bekommen. Kartoffelsorten mit klangvollen Namen, Bohnen, die bis in den Himmel zu wachsen scheinen, und Kräuter, deren Namen man oft erst im Lexikon nachschlagen muss. Es summt und brummt überall. Das Museum hält auch Tiere, vornehmlich alte Rassen. Das Allgäuer Braunvieh etwa, das man hier sieht, ist nicht die hochgezüchtete Milchmaschine, die heute oft auf den Weiden steht, sondern der robustere, ursprüngliche Typ.
Wer zur Erntezeit kommt, hat oft Glück. Äpfel und Birnen von den knorrigen Bäumen auf den Streuobstwiesen werden zu Saft gepresst oder zu Schnaps gebrannt. Der Geschmack ist intensiv, säuerlich, ehrlich. Es ist, als würde man in die Landschaft selbst beißen.
Kultur des Feierabends: Die Torfwirtschaft und die Kegelbahn
Arbeit war das eine, das Vergnügen das andere. Auch das spart Illerbeuren nicht aus. Ein Highlight ist die historische Kegelbahn. Kegeln war früher der Volkssport Nummer eins in den Wirtshäusern. Die Bahn hier ist aus Holz, oft etwas schief, und die Kugeln sind nicht perfekt rund. Wer hier einen "Alle Neune" wirft, hat es wirklich gekonnt – oder einfach unverschämtes Glück gehabt. Es scheppert gewaltig, wenn die Holzkugel am Ende der Bahn einschlägt.
Dazu gehört die "Torfwirtschaft". Der Name verweist auf den Torfabbau, der in den Mooren des Allgäus lange Zeit eine wichtige Einnahmequelle und Brennstofflieferant war. Die Gaststube in diesem Gebäude ist original erhalten. Man sitzt auf harten Bänken. Aber genau das macht den Charme aus. Man rückt zusammen. Die Akustik in diesen holzgetäfelten Räumen ist speziell, gedämpft und doch hellhörig.
Das neue Gesicht des Museums
Das Museum ruht sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. In den letzten Jahren wurde kräftig investiert, was man schon am Eingang merkt. Ein modernes Eingangsgebäude empfängt die Besucher. Architektonisch setzt es einen bewussten Kontrast zum alten Bestand: viel Glas, klare Linien. Hier finden Sonderausstellungen statt, die oft thematisch tief graben – sei es zur Geschichte der Schwabenkinder oder zur Entwicklung der Milchwirtschaft vom blauen Allgäu (Flachs) zum grünen Allgäu (Weideland).
Für Familien ist das Areal mittlerweile gut erschlossen, ohne dass es zum Spielplatz verkommt. Es gibt interaktive Stationen, wo man mal selbst Hand anlegen kann. Aber es bleibt dabei: Der Respekt vor der historischen Substanz steht im Vordergrund. Man lernt hier eher durch Beobachten und Erfühlen als durch grelle Touchscreens.
Praktische Tipps für den Besuch
Wer hungrig wird, muss nicht darben. Der "Gromerhof" wird auch heute als Wirtschaft betrieben. Die Küche ist schwäbisch-deftig. Kässpatzen sind hier Pflicht, nicht Kür. Sie kommen mit ordentlich Zwiebeln und Käse, der Fäden zieht, bis der Arm zu kurz wird. Auch der Zwiebelrostbraten ist eine Bank. Man sollte allerdings am Wochenende reservieren, denn nicht nur Museumsbesucher essen hier, sondern auch die Einheimischen – immer ein gutes Zeichen.
Die Anreise funktioniert am besten mit dem Auto, Parkplätze sind reichlich vorhanden und kostenfrei. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es ein kleines Abenteuer, aber machbar: Mit dem Zug bis Memmingen und dann weiter mit dem Bus in Richtung Legau/Illerbeuren. Der Bus fährt allerdings nicht im Zehn-Minuten-Takt, ein Blick auf den Fahrplan ist also essenziell, um nicht in der Pampa zu stranden.
Plane mindestens drei bis vier Stunden ein. Das Gelände ist weitläufiger, als es auf dem Plan aussieht. Festes Schuhwerk ist ratsam, die Wege sind teils geschottert, teils Wiese. Und nimm Dir eine Jacke mit, auch im Sommer. Die alten Häuser speichern die Kühle der Nacht erstaunlich lange. Illerbeuren ist kein Ort für den schnellen Konsum. Es ist ein Ort, der sich langsam entfaltet, wie ein guter alter Käse, der Zeit zum Reifen brauchte.