Unterallgäu & Wellnessregion

Rebellen, Rokoko und RyanAir: Warum Memmingen der heimliche Star des Allgäus ist

Memmingen ist keine Durchgangsstation, sondern ein mittelalterliches Kraftpaket voller Geschichte, das den Mut zur Freiheit quasi erfunden hat. Hier trifft schwäbische Gemütlichkeit auf Weltpoliti.

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Zwischenablage

Es passiert jeden Tag tausendfach: Rollkoffer rattern über den Asphalt, Menschen hetzen vom "Allgäu Airport" zum Shuttlebus, den Blick starr auf die Alpenkette am Horizont gerichtet. München, Oberstdorf, Schloss Neuschwanstein – das sind die Ziele. Memmingen selbst bleibt oft links liegen. Ein Fehler. Ein ziemlicher Fehler sogar. Denn wer sich die Zeit nimmt, vom Terminal wegzuschauen und die paar Kilometer ins Zentrum zu fahren, landet unvermittelt in einer der besterhaltenen Altstädte Süddeutschlands. Man steht nicht in einer Kulisse, sondern in einem lebendigen Organismus aus Stein, Wasser und Geschichte. Die Luft riecht hier anders als auf dem Rollfeld; nach feuchtem Mauerwerk, frisch geröstetem Kaffee und manchmal, wenn der Wind ungünstig steht, ganz leicht nach Landwirtschaft. Das gehört dazu.

Memmingen ist kompakt. Das ist das Schöne. Du brauchst hier keinen Plan, kaum Google Maps, eigentlich nur bequeme Schuhe, weil das Kopfsteinpflaster es in sich hat. Die Stadtmauer umschließt den Kern wie eine schützende Umarmung, unterbrochen von Toren, die so wuchtig sind, dass man sich unweigerlich klein fühlt. Das "Tor zum Allgäu" ist dabei mehr als eine Marketing-Floskel. Geografisch stimmt es, kulturell ist es die Schwelle zwischen dem bayerischen Schwaben und den ansteigenden Hügeln der Voralpen. Und architektonisch? Da ist Memmingen ein Zwitterwesen, das sich nicht entscheiden wollte und deshalb einfach alles behalten hat: Mittelalter, Renaissance, Barock. Alles da, alles eng beieinander.

Wo die Freiheit schreiben lernte

Es gibt Orte, die sehen hübsch aus, haben aber nichts zu sagen. Memmingen plappert quasi ohne Unterlass, wenn man bereit ist, zuzuhören. Wir müssen hier kurz ernst werden, denn das ist der USP dieser Stadt, auch wenn das Wort "Alleinstellungsmerkmal" furchtbar trocken klingt. Im Jahr 1525 saßen in der Kramerzunft am Weinmarkt ein paar Bauern zusammen. Sie hatten die Nase voll. Von Leibeigenschaft, von Willkür, von Abgaben. Also schrieben sie die "Zwölf Artikel" nieder. Das klingt nach Schulunterricht, ist aber eigentlich ein Thriller.

Es war die erste Erklärung von Menschen- und Freiheitsrechten auf europäischem Boden. Lange vor der Französischen Revolution, lange vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. In dieser beschaulichen Stube wurde Weltgeschichte geschrieben. Wenn du heute vor der Kramerzunft stehst, einem Gebäude mit Treppengiebel, das so typisch schwäbisch aussieht, dass es fast klischeehaft wirkt, spürst du vielleicht diesen Hauch von Rebellion. Memmingen nennt sich heute "Stadt der Freiheitsrechte". Zurecht. Das ist kein verstaubtes Museumsthema, sondern Identität. Man ist hier stolz, aber auf diese unaufgeregte, fast brummige Art. Man trägt das nicht wie eine Monstranz vor sich her, man weiß es halt.

Wasser, Wehrgänge und schiefe Wände

Genug der Theorie. Ein Spaziergang durch Memmingen folgt idealerweise dem Wasser. Die Stadt wird durchzogen vom Stadtbach, der Ach. Früher war das der Abwasserkanal und die Energiequelle für die Mühlen, heute ist es die Lebensader für die Gastronomie. Besonders im Sommer sitzen die Leute an der "Bachgasse" draußen, die Füße hängen fast im Wasser, das Bier ist kalt. Es hat fast ein wenig italienisches Flair, wäre da nicht die Architektur.

Sieh dir das "Siebendächerhaus" an. Es ist ein Gebäude, das den Gesetzen der Statik zu spotten scheint. Das ehemalige Gerberhaus hat eine Dachkonstruktion, die so verwinkelt ist, dass sie aussieht, als würde sie gleich in sich zusammensacken oder als hätte ein Riese versucht, Origami mit Ziegelsteinen zu spielen. Es diente früher zum Trocknen der Felle. Die vielen offenen Luken im Dach sorgten für Durchzug. Heute ist es einfach nur ein verdammt gutes Fotomotiv und ein Beweis für das handwerkliche Geschick (oder den Wahnsinn) früherer Zimmermänner.

Überhaupt, die Zünfte. Sie haben das Stadtbild geprägt. Das Großzunftgebäude am Marktplatz und das Steuerhaus bilden ein Ensemble, das in Süddeutschland seinesgleichen sucht. Das Steuerhaus mit seiner reich bemalten Fassade und den Arkadengängen wirkt fast zu prächtig für eine Stadt dieser Größe. Es ist ein bisschen wie eine Sahnetorte, die jemand mitten auf den Platz gestellt hat – opulent, bunt, unübersehbar. Wenn die Abendsonne auf den Putz knallt, leuchten die Farben so intensiv, dass man fast blinzeln muss. Rokoko lässt grüßen.

Der Grüne Weg und die Tore zur Welt

Ein echter Tipp, den viele Tagestouristen übersehen, ist der Grüne Weg entlang der Stadtmauer. Memmingen hat seine Befestigungsanlagen nicht geschleift, um Platz für Ringstraßen zu machen, wie so viele andere Städte, sondern hat sie in Parkanlagen integriert. Fünf Tore und fünf Türme stehen noch. Das Kempter Tor im Süden ist so massiv, dass man sich die Angst der Angreifer im 17. Jahrhundert bildhaft vorstellen kann. Wer hier reinwollte, musste gute Argumente oder eine verdammt große Kanone haben.

Du kannst streckenweise an der Mauer entlanggehen, unter alten Bäumen, im Schatten des Ziegelmauerwerks. Hier ist es meist ruhig. Man hört das Rauschen der Baumwipfel, vielleicht das entfernte Lachen von einem Spielplatz, aber der Verkehrslärm bleibt draußen. Es ist der perfekte Ort, um runterzukommen. Hier versteht man auch, warum Memmingen so lebenswert ist: Es ist grün, es ist sicher, es ist überschaubar.

Kultur jenseits des Mainstreams

Wer glaubt, in der Provinz gäbe es nur Heimatmuseen mit alten Pflugscharen und verstaubten Trachten, irrt gewaltig. Klar, das Stadtmuseum im Hermansbau ist solide und erzählt die Geschichte gut. Aber der eigentliche Knaller ist die MEWO Kunsthalle. Untergebracht im alten Postgebäude – ein wuchtiger Kasten aus der Jahrhundertwende – finden hier Ausstellungen statt, die man eher in Berlin oder Zürich vermuten würde. Zeitgenössische Kunst, Fotografie, oft thematisch mutig kuratiert. Der Eintritt ist meistens frei oder sehr günstig. Es ist dieser Kontrast, der Memmingen spannend macht: Draußen Fachwerkidylle, drinnen Avantgarde.

Ein anderes Kaliber ist das Antonierhaus. Früher ein Spital des Antoniter-Ordens. Die Mönche kümmerten sich im Mittelalter um die Kranken, die am "Antoniusfeuer" litten – einer Vergiftung durch Mutterkorn im Roggen. Das Museum dort beleuchtet diese medizinische und kulturhistorische Nische extrem spannend. Und der Innenhof? Eine Oase der Stille. Perfekt für eine Pause.

Fischertag und Wallenstein: Wenn die Stadt durchdreht

Man kann über Memmingen nicht schreiben, ohne den Ausnahmezustand zu erwähnen. Einmal im Jahr, meist kurz vor den Sommerferien, juckt es den Memminger Männern in den Fingern. Oder besser: in den Beinen. Beim "Fischertag" springen tausende von ihnen auf einen Böllerschuss hin in den Stadtbach, um ihn "auszufischen". Das Ziel: Die dickste Forelle zu fangen. Wer sie hat, wird Fischerkönig. Das klingt archaisch, ist es auch. Es ist laut, es ist nass, es ist ein einziges Gedränge. Aber es ist herzlich. Danach riecht die ganze Stadt nach gebratenem Fisch, Bier und Schweiß.

Und alle paar Jahre (alle vier, um genau zu sein) wird es noch wilder. Dann kommt Wallenstein. 1630 lagerte der Generalissimus hier. Die Memminger spielen das nach. Tausende Bürger in historischen Kostümen, Lagerleben in den Parks, Gefechtslärm, Pferde in den Gassen. Es ist eines der größten Historiefestspiele Europas. Die Detailverliebtheit ist dabei fast schon obsessiv. Da wird wochenlang der Bart wachsen gelassen, Brillen und Armbanduhren sind streng verboten. Wenn du zufällig in so einem Jahr da bist: Glückwunsch. Wenn nicht: Pech gehabt, aber die Stadt ist auch ohne Landsknechte schön.

Essen, Trinken und das süße Leben

Kommen wir zum Wesentlichen. Wo kriegt man was Ordentliches auf den Teller? Die Memminger Gastronomie ist bodenständig, hat sich aber in den letzten Jahren gemausert. Natürlich gibt es Kässpatzen. Die müssen fädenziehen, dass es eine Art ist, und ordentlich nach Bergkäse stinken, sonst taugen sie nichts. Gute Adressen für so was finden sich rund um den Marktplatz.

Interessant ist aber auch die Kaffeekultur. Es gibt kleine Röstereien und Cafés, die sich in den engen Gassen verstecken. Nimm dir Zeit für ein Stück Kuchen im "Café am Stadtbach" oder ähnlichen kleinen Läden. Ein lokaler Tipp: Probier alles, was mit "Seele" zu tun hat – das ist ein typisch oberschwäbisches Gebäck, so ähnlich wie ein Baguette, aber mit Kümmel und grobem Salz, außen knusprig, innen luftig-feucht. Mit Butter und Schinken ein Gedicht.

Abends lohnt sich ein Besuch in den Brauereigaststätten. Das "Barfüßer" ist riesig und laut, aber atmosphärisch. Wer es intimer mag, sucht sich eine Weinstube. Die Preise? Für Münchner Verhältnisse ein Witz, für Allgäuer Verhältnisse fair. Man wird satt, ohne einen Kredit aufnehmen zu müssen.

Warum du bleiben solltest

Memmingen ist der Beweis, dass Größe nichts mit Bedeutung zu tun hat. Die Stadt funktioniert, weil sie authentisch geblieben ist. Sie biedert sich nicht an. Sie hat keine weltberühmten Schlösser (wobei das Fuggerschloss im nahen Babenhausen nicht weit ist), sie hat keinen See vor der Haustür. Aber sie hat Charakter. Ecken und Kanten.

Es ist der ideale Startpunkt für das Allgäu, ja. In 30 Minuten bist du in den Bergen. Aber es ist auch ein Ort zum Verweilen. Ein Ort, an dem man spürt, wie Bürgerstolz über Jahrhunderte eine Stadt geformt hat. Die Freiheitsrechte von 1525 sind dabei das moralische Rückgrat, die Altstadt das hübsche Gesicht. Wenn du das nächste Mal von hier fliegst oder landest: Nimm den späteren Zug. Oder buch eine Nacht im Hotel am Marktplatz. Geh abends durch die leeren Gassen, wenn die Tagestouristen weg sind und die Laternen das Kopfsteinpflaster in gelbes Licht tauchen. Dann gehört Memmingen dir fast allein. Und das, mein Freund, ist ein ziemlich gutes Gefühl.

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