Bei Oberjoch im Oberallgäu fließen zwei Bäche zusammen, und schon ist sie da: die Wertach. Der Kaltenbrunnenbach und der Eggbach vereinigen sich auf 1078 Metern Höhe, und ab da geht es bergab. 141 Kilometer lang ist die Strecke bis zur Mündung in den Lech bei Augsburg. Das klingt erstmal nach einer überschaubaren Distanz, aber der Fluss durchläuft dabei praktisch alle Entwicklungsstufen, die ein alpines Gewässer durchmachen kann.
Im Oberlauf ist die Wertach noch ein echter Wildfluss. Breite Kiesbänke, die sich ständig verlagern, klares Wasser, das sich durch die Landschaft frisst. Wer die Wertach dort sieht, versteht sofort, woher der Name kommt. Die Kelten nannten sie angeblich "Virdo", was so viel wie "die Schnelle" bedeutet. Andere Theorien leiten den Namen vom lateinischen "viridis aqua" ab, also "grünes Wasser". Egal welche Version stimmt: Beides passt.
Doch schon beim Grüntensee, kaum zehn Kilometer nach der Quelle, ist erstmal Schluss mit der Wildheit. Der 1962 fertiggestellte Stausee ist das erste von insgesamt 21 Wasserkraftwerken entlang der Strecke. Und das ist nur der Anfang. Die Wertach wurde über Jahrzehnte begradigt, kanalisiert, eingedämmt. Am Ende war der ursprüngliche Lauf um rund 20 Kilometer verkürzt, der Fluss nur noch 35 Meter breit. Das Flussbett grub sich bis zu sieben Meter tief in den Untergrund.
Renaturierung mit Ansage: Wertach vital
Das Pfingsthochwasser von 1999 war der Weckruf. In Augsburg-Göggingen und Pfersee richtete die Wertach Schäden in dreistelliger Millionenhöhe an. Danach war klar: So geht es nicht weiter. Das Projekt "Wertach vital" startete mit dem Ziel, den Fluss wieder lebendiger zu machen und gleichzeitig die Hochwassergefahr zu reduzieren. Klingt nach dem Versuch, die Quadratur des Kreises zu schaffen, aber tatsächlich funktioniert es.
Seit 2000 wurden rund 14 Kilometer Flusslauf renaturiert. Das Flussbett wurde aufgeweitet, manchmal auf über 100 Meter Breite. Uferbefestigungen wurden entfernt, Deiche zurückverlegt, Auwälder wieder geflutet. Sogenannte raue Rampen stabilisieren die Sohle, ohne den Fluss komplett einzusperren. An einigen Stellen wurden Kiesdepots angelegt, aus denen sich die Wertach bei Hochwasser bedienen darf, um ihr Bett neu zu gestalten.
Das Ergebnis ist beeindruckend, wenn man weiß, wo man hinschauen muss. Zwischen der Staustufe Inningen und dem Ackermannwehr hat der Fluss jetzt wieder Platz. Neue Lebensräume entstanden: Kiesufer für spezialisierte Pflanzen, die Hitze und Überschwemmung vertragen, flache Uferzonen für Vögel, durchgängige Fischwanderhilfen. Die Äsche ist zurück, ebenso der Huchen, der "Donaulachs", der als gefährdet gilt.
Wildnis pur: Die Wertachschlucht
Zwischen Görisried und Leuterschach zeigt die Wertach, was in ihr steckt. Hier schneidet sie sich 70 Meter tief durch einen Molasserücken. Die Wertachschlucht ist als FFH-Gebiet und Vogelschutzgebiet ausgewiesen, insgesamt 954 Hektar groß. Nur eingeschränkt begehbar, und das ist auch gut so. In den Hangschluchtwäldern brüten Uhus und verschiedene Spechtarten. Orchideen gedeihen an den Steilhängen, der Eisvogel jagt am Flussufer.
Die natürliche Flussdynamik sorgt hier für ständige Veränderung. Kiesbänke entstehen und verschwinden wieder, Abbruchkanten und Steilufer prägen das Bild. Oberhalb des Wertachtals entspringen zahlreiche kalkhaltige Quellen. An den Steilhängen scheidet sich der Kalk ab und bildet über Jahrtausende Kalksinterterrassen. Die sehen aus wie in Miniaturformat nachgebaute Landschaften aus der Türkei, weshalb man manchmal von "Klein-Pamukkale" spricht.
Ein Wanderweg führt von Görisried zur Hängebrücke über die Wertach. Die Tour dauert rund zwei Stunden ab Ortsmitte. Der Hängesteg selbst ist ein kleines Abenteuer: Er wankt und schwankt ordentlich, wenn man ihn betritt. Direkt daneben plätschert ein Wasserfall über die Sinterterrassen. Manche nennen ihn den Kaskaden-Wasserfall, weil das Wasser über mehrere Stufen in die Tiefe stürzt. Die braunen Gesteinsformationen wirken weich wie Lehm, sind aber fest gesintert.
Auf dem Wasser: Kanu-Abenteuer mit Tücken
Die Wertach ist kein Fluss für blutige Anfänger im Wildwasserpaddeln. Zwischen der Römerbrücke unterhalb des Grüntensees und Görisried bietet sie eine klassische Wildwasserstrecke der Kategorie II, im oberen Bereich etwas mehr, flussabwärts dann abnehmend. Etwa zwölf Kilometer geht es durch ein bewaldetes Tal, das von Straßen nur in schwindelerregender Höhe gekreuzt wird. Zahlreiche Wellenzüge, kleine Schwälle, gelegentlich auch Plumpsklos an Steinhindernissen machen die Fahrt spannend.
Die Tücke: Der Fluss fließt durch dichten Wald, und Baumhindernisse sind keine Seltenheit. Nach Unwettern liegen regelmäßig umgestürzte Bäume im Flussbett. Wer hier paddeln will, sollte Erfahrung mitbringen und defensiv fahren. Ein Wurfsack im Gepäck ist Pflicht, ein Helm keine schlechte Idee. Der Wasserstand muss passen. Bei rund zehn Kubikmetern pro Sekunde sind die Bedingungen ideal, bei zu viel Wasser wird es schnell gefährlich.
Ab Görisried wird die Wertach deutlich zahmer. Das Tal öffnet sich, die Schwierigkeiten nehmen ab. Viele Paddler steigen hier aus, aber wer weiterfährt, erlebt einen schönen Übergang vom Wildfluss zum Wanderfluss. Die Strömung bleibt gut, gelegentlich gibt es noch wildere Stellen zum Spielen. Beliebte Ausstiegspunkte sind die Fußgängerbrücke vor Leuterschach oder später Richtung Kaufbeuren.
Wichtig: Nicht alle Abschnitte der Wertach sind frei befahrbar. Bei Augsburg-Inningen besteht beispielsweise ein ganzjähriges Befahrungsverbot am Stausee. Wer auf Nummer sicher gehen will, checkt vorher die Befahrungsregeln des Deutschen Kanu-Verbands.
Zu Fuß am Ufer: Wandern zwischen Geschichte und Natur
In Kaufbeuren führt der Wertach-Wanderweg idyllisch durchs Stadtgebiet. Der Weg verlässt den Flusslauf nur an wenigen Stellen und kehrt bald wieder zurück. Sieben Lehrtafeln informieren über Fische, Vögel, Biber und die bedrohte Pflanzenwelt am Fluss. Seit 2016 schmücken fünf mannshohe Stelen den Weg in der Nähe der Ulrichbrücke. Sie zeigen die fünf Säulen des Gesundheitskonzepts von Sebastian Kneipp, passend für eine Stadt, die sich dem Kneipp-Erbe verbunden fühlt.
Die Tour vom Bärensee bei Kaufbeuren-Hirschzell bis zum Parkplatz am Wertach-Freizeitpark dauert etwa zwei Stunden. Der Weg ist gesäumt von prächtigen Bäumen und bunter Vegetation. Das Rauschen des Flusses begleitet einen die ganze Zeit. Familienfreundlich, flach, gut geeignet für einen Nachmittagsspaziergang.
Bei Nesselwang lockt die Rundwanderung durchs Wertachtal. Die Tour führt entlang des Flusses bis zum Bischofsstein, einem alten Grenzstein der fürstbischöflichen Besitztümer aus dem Jahr 1725. Erstaunlich, dass ihn das Hochwasser all die Jahrhunderte nicht weggeschwemmt hat. Von dort geht es bergauf zum Hochufer und nach Maria Rain mit seiner sehenswerten Wallfahrtskirche. Die Auenlandschaft entlang der Wertach ist hier besonders artenreich. Je nach Jahreszeit blühen Wollgräser, Knabenkräuter oder der Schwalbenwurz-Enzian auf den Feuchtwiesen.
Die Wertach in Zahlen und Fakten
141 Kilometer Länge, 1440 Quadratkilometer Einzugsgebiet. Die Wertach ist nach der Iller der zweitgrößte Fluss, der den Allgäuer Alpen entspringt. Der Höhenunterschied vom Zusammenfluss der Quellbäche bis zur Mündung beträgt über 600 Meter. Schon die Römer nutzten den Fluss als wichtige Verkehrsverbindung zwischen Augusta Vindelicorum, dem heutigen Augsburg, und Cambodunum, dem heutigen Kempten.
Im Mittelalter wurde die Wertach wirtschaftlich genutzt. Mühlen, Hammerwerke und Sägewerke standen am Ufer. 1884 legte man zur Versorgung einer Fabrik in Göggingen einen großen Kanal an, den Fabrikkanal. Bis ins 19. Jahrhundert war die Wertach noch weitgehend ein Wildfluss mit breitem, sich ständig verlagerndem Flussbett. Dann kam die große Umgestaltung: Begradigung, Kanalisierung, Staustufen.
Heute beherbergt die Wertach eine beachtliche Fischfauna. Bachforellen, Regenbogenforellen, Äschen, der seltene Huchen. In den ruhigeren Abschnitten fühlt sich auch der Hecht wohl. Angler schätzen den Fluss, auch wenn die Zugänglichkeit nicht überall einfach ist. Das steile Ufer und die dichten Büsche an manchen Stellen machen das Anlanden schwierig.