Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Bad Hindelang: Wo Ostrach und Bärgündle durch unberührte Täler fließen

Bad Hindelang ist kein poliertes Postkartenidyll für den schnellen Selfie-Stopp, sondern ein raues Stück Natur, wo Tradition noch nach Stall riecht und der Jochpass jedem Autofahrer den Schweiß auf die Stirn treibt. Wer hierher kommt, braucht gute Waden und einen gesunden Respekt vor dem Bergwetter.

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Zwischenablage

Die Anreise ist schon das erste Abenteuer, zumindest wenn du von Norden über die A7 kommst und dich dann die B308 hinaufschraubst. Der Oberjochpass ist eine Legende aus Asphalt. Über hundert Kurven winden sich den Hang hinauf, eine Strecke, die Motorradfahrer lieben und Wohnmobilisten fürchten. Früher haben hier Schmuggler Salz über die Grenze geschafft, heute ist es die wichtigste Arterie in das Hochtal von Bad Hindelang. Unten im Talboden liegt der Hauptort, fast ein wenig geduckt unter den massiven Felswänden des Imberger Horns und des Iseler. Es ist eng hier. Man spürt sofort, dass die Berge hier nicht bloß Kulisse sind, sondern den Takt vorgeben.

Bad Hindelang selbst wirkt auf den ersten Blick vielleicht ein wenig verschlafen. Man sieht viele Kurhäuser, gepflegte Parkanlagen und Hotels mit blumengeschmückten Holzbalkonen. Aber der Schein trügt. Hinter der bayerischen Gemütlichkeit steckt eine knallharte Überlebensstrategie. Die Einheimischen haben früh kapiert, dass sie ihre Landschaft nicht zubetonieren dürfen, wenn sie überleben wollen. Das "Ökomodell Hindelang" ist so ein Begriff, der hier oft fällt. Klingt trocken, ist aber genial: Die Bauern bekommen Geld dafür, dass sie die steilen Wiesen mühsam bewirtschaften, statt sie verwalden zu lassen. Das Ergebnis ist diese fast surreal grüne Teppich-Optik, die bis an die Felskanten reicht.

Oberjoch und Unterjoch: Wo die Luft dünn wird

Wenn du den Jochpass ganz hinauf gefahren bist, landest du in Oberjoch. Deutschlands höchstes Bergdorf. Das ist keine leere Phrase, sondern meteorologische Realität. Hier oben auf über 1100 Metern ist die Luft anders. Dünner. Reiner. Seit Jahrzehnten schickt man Allergiker hierher, weil Milben und Pollen in dieser Höhe einfach kapitulieren. ECARF-zertifiziert und pollenarm – das klingt medizinisch, bedeutet aber in der Praxis: Du kannst tief durchatmen, ohne dass die Nase läuft.

Oberjoch ist im Winter ein Schneeloch. Ein eiskaltes. Während unten im Tal schon die Krokusse blühen, liegen hier oben oft noch Meter an weißer Pracht. Das Skigebiet ist nicht riesig, vergleicht man es mit den Tiroler Giganten gleich hinter der Grenze, aber es ist knackig. Das Trainingszentrum der alpinen Rennläufer steht nicht umsonst hier. Die Pisten sind oft hart, eisig und steil. Wer hier fahren lernt, kommt überall runter. Im Sommer wirkt der Ort manchmal etwas verlassen, fast wie eine Kulisse, die auf ihre Schauspieler wartet. Aber genau das hat seinen Reiz. Du kannst rüberwandern ins Tannheimer Tal oder dich am Iseler versuchen, wo der Salewa-Klettersteig wartet. Nichts für Leute mit Höhenangst, das sei dir gesagt. Der Fels ist griffig, aber der Blick in den Abgrund ist unzensiert.

Hinterstein: Das Ende der Welt (im positiven Sinne)

Biegst du unten im Tal in Sonthofen oder Bad Hindelang Richtung Osten ab, landest du irgendwann in Hinterstein. Hier ist Endstation für dein Auto. Ein großer Parkplatz markiert die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Hinterstein ist ein Dorf, das sich an den Hang klammert, mit engen Gassen und alten Holzhäusern, die von der Sonne fast schwarz gebrannt sind. Es riecht nach Holzfeuer und, wenn der Wind ungünstig steht, nach Gülle. Das gehört dazu. Es ist ehrlich.

Von hier aus geht es nur noch zu Fuß oder mit dem "Giebelhaus-Bus" weiter ins Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen. Dieser Bus ist eine Institution. Er rumpelt über eine schmale Asphaltstraße tief in das Tal hinein, vorbei an der Ostrach, die hier noch ein wilder, ungezähmter Gebirgsbach ist. Das Wasser ist so klar, dass es fast unsichtbar wirkt, und so kalt, dass dir schon beim Zehen-Eintauchen der Atem stockt. "Gumpen" nennen die Einheimischen die tiefen Ausspülungen im Felsbett, natürliche Badewannen für Mutige.

Wandern, wo es weh tut (und glücklich macht)

Das Hintersteiner Tal ist der Ausgangspunkt für einige der spektakulärsten Touren im Allgäu. Der Klassiker ist der Weg zum Schrecksee. Aber Vorsicht: Instagram hat diesen Ort berühmt gemacht, und das ist Fluch und Segen zugleich. Der Aufstieg ist brutal steil, fast 1000 Höhenmeter am Stück. Oben liegt dann dieser See in einer Mulde, oft noch bis in den Sommer hinein mit Eisschollen bedeckt, und in der Mitte diese kleine Insel. Es sieht aus wie in Neuseeland oder Kanada. Wenn du Glück hast, bist du früh genug dran und hast die Stille für dich. Wenn nicht, teilst du dir das Panorama mit hundert anderen. Ein Tipp: Geh weiter. Die meisten bleiben am Ufer hocken.

Wer es einsamer mag, nimmt sich den Hochvogel vor – oder zumindest den Weg in seine Richtung. Der Berg selbst bröckelt, ein riesiger Spalt zieht sich durch den Gipfel, weshalb der direkte Aufstieg von bayerischer Seite oft gesperrt oder heikel ist. Aber allein der Anmarsch über das Prinz-Luitpold-Haus ist eine Reise wert. Hier oben pfeift der Wind anders. Das Gestein ist scharfkantiger Kalk, Dolomit, der in der Sonne blendet. Man hört das Pfeifen der Murmeltiere, lange bevor man sie sieht. Diese fetten Nager sind hier die eigentlichen Hausherren. Wer still sitzt, kann sie beobachten, wie sie sich sonnen.

Kulturhammer und Gruselkabinett

Zurück im Tal. Bad Hindelang hat eine kulturelle Seite, die überraschend düster sein kann. In Hinterstein gibt es das Kutschenmuseum. Der Name ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Man erwartet ein paar alte Fuhrwerke, vielleicht ein bisschen staubiges Leder. Stattdessen betrittst du eine Welt, die irgendwo zwischen frommem Wahnsinn und genialer Sammelwut liegt. Es ist dunkel da drin, beleuchtet von unzähligen Lampen und Kerzen, vollgestopft mit Schlitten, religiösen Figuren, Pelzen und Wachspuppen. Es hat etwas Mystisches, fast Unheimliches. Der Museumsgründer war ein Exzentriker, wie er im Buche steht. Das musst du gesehen haben, erklären kann man diese Atmosphäre kaum.

Etwas handfester geht es in den Hammerschmieden von Bad Oberdorf zu. Das Ostrachtal war früher ein Zentrum der Eisenverarbeitung. Drei dieser alten Schmieden sind noch aktiv. Hier werden Bratpfannen geschmiedet, die so schwer sind, dass man damit einen Bären erschlagen könnte. Es ist laut, es riecht nach Kohle und glühendem Eisen. Wenn der Hammer auf den Amboss knallt, wackelt der Boden. Das ist kein Museum zum Durchlatschen, hier wird gearbeitet. Eine solche Pfanne zu kaufen, ist eine Investition fürs Leben – darin gelingen die Kässpatzen einfach besser, da gibt es keine Diskussion.

Essen und Trinken: Fett, deftig, gut

Apropos Essen. Wer im Allgäu Diät hält, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Die Küche ist geprägt von dem, was die Alpwirtschaft hergibt: Milch, Käse, Mehl. Kässpatzen sind der Goldstandard. In Bad Hindelang gibt es sie in fast jedem Gasthof, aber die Qualität schwankt. Achte darauf, wo die Einheimischen sitzen. Gute Spatzen müssen Fäden ziehen, die lang genug sind, um damit stricken zu können. Und oben drauf gehören Röstzwiebeln, keine labbrigen Dinger aus der Dose, sondern selbstgemachte, knusprige Zwiebelringe.

Eine Besonderheit ist der Bergkäse von den Alpen rund um das Tal. Viele Sennalpen verkaufen direkt ab Hütte. Der "Zipfelsalpe" solltest du einen Besuch abstatten. Der Weg ist steil, aber der Käse dort oben hat durch die Kräuterwiesen einen Geschmack, den du im Supermarkt vergeblich suchst. Würzig, fast scharf. Dazu ein Glas Buttermilch. Das klingt simpel, ist aber nach drei Stunden Aufstieg besser als jedes Sterne-Menü.

Viehscheid: Der Ausnahmezustand

Solltest du Mitte September hier sein, wunder dich nicht, wenn das Tal gesperrt ist und Tausende Menschen an der Straße stehen. Der Viehscheid, der Almabtrieb, ist in Bad Hindelang einer der größten der Region. Es ist laut, es ist chaotisch und es riecht intensiv nach Kuh. Die Tiere kommen nach dem Sommer von den Hochalpen zurück ins Tal. Hatte die Herde keinen Unfall im Sommer, trägt das Leittier, die Kranzkuh, einen gewaltigen Kopfputz aus Blumen und Spiegeln. Die Schellen, riesige Glocken am Hals der Tiere, machen einen Höllenlärm. Es ist ein uraltes Ritual, das heute natürlich auch ein riesiges Festzelt-Besäufnis ist. Aber der Kern, die Dankbarkeit der Bauern, dass das Vieh gesund zurück ist, der ist echt. Da stehen gestandene Männer mit Tränen in den Augen am Straßenrand.

Wenn der Tag geht

Abends wird es ruhig im Ostrachtal. Es gibt kein wildes Nachtleben, keine Clubs, die bis zum Morgengrauen wummern. Man trifft sich in der Wirtschaft, trinkt ein Zötler oder ein Engelbräu und redet. Oder man genießt einfach die Stille. Wenn die Sonne hinter dem Imberger Horn verschwindet, kühlt es schnell ab, auch im Hochsommer. Dann zieht oft ein kühler Wind durch das Tal, der "Jochwind". Er fegt den Dunst weg. Der Sternenhimmel hier draußen ist übrigens phänomenal, weil die Lichtverschmutzung durch die Berge abgeschirmt wird. Setz dich einfach auf eine Bank, schau nach oben und sei froh, dass du nicht in der Stadt bist. Das Ostrachtal ist vielleicht nicht der Nabel der Welt, aber es ist ein verdammt schöner Ort, um sich mal wieder zu erden.

Ein letztes Wort zum Wasser

Bad Hindelang ist nicht nur Luftkurort, sondern auch Heilbad. Schwefelquellen. Das klingt erstmal, als hätte jemand faule Eier im Keller vergessen. Und ja, in Bad Oberdorf kann man das manchmal riechen. Aber das Zeug hilft. Gegen Rheuma, gegen Gelenkschmerzen. Es ist eine der stärksten Schwefelquellen im süddeutschen Raum. Wenn du also vom Wandern Knieprobleme hast, leg dich in das stinkende Wasser. Es wirkt Wunder. Es ist diese Mischung aus schroffer Natur, harter Arbeit und heilender Kraft, die diesen Winkel des Allgäus so speziell macht. Kein Disneyland, sondern Realität mit Aussicht.

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