Es ist laut. Das ist das Erste, was einem auffällt, noch bevor man überhaupt den ersten Blick auf das Wasser geworfen hat. Ein tiefes, grollendes Rauschen, das aus dem Boden zu kommen scheint und die Luft merklich vibrieren lässt. Man steht am Eingang zur Breitachklamm bei Tiefenbach und ahnt schon, dass das hier kein gemütlicher Sonntagsspaziergang über blühende Almwiesen wird. Hier unten regiert eine andere Kraft. Die Breitach, eigentlich ein ganz solider Gebirgsfluss, wird hier zum wilden Tier, das sich seit der letzten Eiszeit durch das Gestein beißt. Es ist die tiefste Felsenschlucht Mitteleuropas. Das klingt erst einmal nach einem Titel für das Guinness-Buch, aber wenn du davor stehst, ist dir die Statistik herzlich egal. Dann siehst du nur noch Felswände, die bis zu 150 Meter senkrecht nach oben schießen, und dazwischen ein tosendes Gewässer, das keine Gefangenen macht.
Der Weg hinein führt direkt in den Schlund. Man läuft auf gesicherten Stegen, die förmlich an den Fels geklebt wirken. Unter den Füßen sieht man durch Gitterroste das Wasser schäumen. Wer hier Höhenangst oder ein Problem mit tiefen Abgründen hat, muss jetzt tapfer sein. Oder einfach stur geradeaus schauen. Die Luft wird schlagartig kühler. Selbst im Hochsommer, wenn oben im Tal die Wanderer bei 25 Grad schwitzen, herrschen hier unten kühlschrankartige Temperaturen. Eine Jacke dabei zu haben, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Intelligenz. Es tropft nämlich. Immer. Mal ist es die Gischt vom Fluss, mal drückt sich Grundwasser durch die Gesteinsschichten des Schrattenkalks. Feuchtigkeit ist hier der Normalzustand.
Ein Pfarrer mit Dynamit
Dass wir hier überhaupt durchlaufen können, verdanken wir einem Mann, den man heute wohl als Visionär bezeichnen würde, damals aber eher für einen Verrückten hielt. Johannes Schiebel hieß der gute Mann, seines Zeichens Pfarrer in Tiefenbach. Um die Jahrhundertwende, also so um 1904, hatte er die Idee, diese unzugängliche Schlucht begehbar zu machen. Nicht aus reinem Spaß an der Freude, sondern um den Tourismus anzukurbeln, der damals noch in den Kinderschuhen steckte. Die Einheimischen waren skeptisch. Verständlich. Wer klettert schon freiwillig in einen "Tobel", in dem es lebensgefährlich ist?
Aber Schiebel war hartnäckig. Er gründete einen Verein, sammelte Geld und ließ Sprengladungen anbringen. Es war eine Knochenarbeit. Damals gab es keine schweren Maschinen, die man mal eben per Hubschrauber in die Klamm flog. Alles musste per Hand oder mit Schwarzpulver erledigt werden. Die Arbeiter hingen an Seilen in den Wänden, bohrten Löcher in den harten Stein und hofften, dass die Zündschnur lang genug war. 1905 wurde die Klamm eröffnet. Wenn du heute über die massiven Stahlkonstruktionen läufst, denk kurz an die Jungs von damals, die hier mit Meißeln und Hammer hingen. Das relativiert die eigene Anstrengung beim Treppensteigen doch erheblich.
Lichtspiele und Wassermassen
Je tiefer man in die Klamm vordringt, desto surrealer wird das Licht. Die Sonne schafft es nur stellenweise bis ganz nach unten. Meistens bricht sich das Licht an den nassen Felswänden, was dem Ganzen eine fast mystische Atmosphäre verleiht. Das Gestein schimmert in allen Grautönen, dazwischen leuchtet moosiges Grün, das sich krampfhaft an den wenigen Stellen festhält, wo das Wasser nicht alles wegspült. Und dann das Wasser selbst: Je nach Wetterlage und Schmelzwasseraufkommen wechselt die Farbe der Breitach. Mal ist sie milchig-türkis, fast schon karibisch, dann wieder schiefergrau und bedrohlich, besonders nach starken Regenfällen. An manchen Tagen preschen hier bis zu 40.000 Liter Wasser pro Sekunde durch die Enge. Das ist eine Menge, die man sich kaum vorstellen kann, bis man sieht, wie baumstammgroße Äste wie Streichhölzer gegen die Felswände geworfen werden.
Spannend ist dabei, dass der Lärmpegel nicht konstant ist. Es gibt Passagen, da brüllt der Fluss so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht – Unterhaltungen kann man sich da sparen. Ein paar Meter weiter, wo die Schlucht sich etwas weitet, wird es ruhiger, fast schon friedlich, bevor die nächste Engstelle kommt. Diese Dynamik macht den Reiz aus. Man wird nicht nur visuell überreizt, sondern auch akustisch ordentlich durchgeschüttelt.
Oben rum oder unten durch?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Klamm zu erleben. Die meisten Besucher starten am Parkplatz in Tiefenbach (P1) und laufen flussaufwärts. Das ist der Klassiker. Der Weg ist gut ausgebaut, aber eben nicht barrierefrei. Wer mit Kinderwagen anrückt, hat schlechte Karten und muss umdrehen. Das ist so a Kas, wie der Allgäuer vielleicht sagen würde, aber die Natur lässt hier keine Rampen zu. Nach gut einer Stunde, je nachdem wie oft man für Fotos stehen bleibt, erreicht man das obere Ende an der Walserschanz. Hier verläuft übrigens direkt die Grenze zu Österreich. Man kann also mit einem Fuß in Bayern und mit dem anderen im Kleinwalsertal stehen, wenn man denn möchte.
Viele drehen hier um und laufen den gleichen Weg zurück durch die Klamm. Das hat den Vorteil, dass man die Perspektive wechselt und Dinge sieht, die einem auf dem Hinweg entgangen sind. Aber wer noch etwas Puste hat, sollte den Rundweg nehmen. Der führt oben an der Kante der Schlucht zurück. Der absolute Höhepunkt dabei ist der Zwingsteg. Das ist eine Brücke, die in schwindelerregender Höhe die Klamm überspannt. Der Blick von dort oben senkrecht in die Tiefe ist nichts für schwache Nerven, aber er zeigt erst die wahre Dimension dieses Risses in der Landschaft. Von oben wirken die Menschen unten auf den Stegen wie Ameisen. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie klein wir eigentlich gegen diese geologische Masse sind.
Eispalast statt Wasserhölle
Ein ganz anderes Gesicht zeigt die Breitachklamm im Winter. Wenn die Temperaturen dauerhaft unter den Gefrierpunkt fallen, verwandelt sich die tosende Hölle in einen stillen Eispalast. Das Wasser, das im Sommer von den Wänden tropft, gefriert zu riesigen Eiszapfen und Vorhängen. Die Wasserfälle erstarren mitten in der Bewegung. Das ist ein Anblick, der selbst hartgesottene Wintermuffel beeindruckt. Allerdings ist es dann auch glatt. Und zwar richtig. Der Betreiber streut zwar, aber auf Eisplatten und festgetretenem Schnee sind normale Turnschuhe ein Garant für blaue Flecken. Wer clever ist, schnallt sich Grödel unter die Wanderstiefel. Das sind diese kleinen Spikes für Arme, die man einfach überzieht. Damit läuft es sich entspannt, während andere Besucher wilde Rutschpartien hinlegen.
Im Winter gibt es auch die Fackelwanderungen. Das klingt kitschig, ist es vielleicht auch ein bisschen, aber die Stimmung ist einmalig. Wenn das Feuer der Fackeln sich in den riesigen Eiswänden spiegelt und der Schnee das Licht bricht, dann hat das schon was Magisches. Da vergisst man schnell, dass einem gerade die Zehen abfrieren.
Der frühe Vogel fängt den Parkplatz
Kommen wir zu den harten Fakten, die in keinem Hochglanzprospekt stehen. Die Breitachklamm ist kein Geheimtipp mehr. Sie ist, um es deutlich zu sagen, ein Besuchermagnet. An schönen Tagen im Sommer oder in den Ferien schieben sich die Massen durch die engen Wege. Wer Einsamkeit sucht, ist hier falsch oder muss verdammt früh aufstehen. Der Parkplatz in Tiefenbach füllt sich schneller, als man "Breitach" sagen kann. Wenn der voll ist, wird es nervig. Mein Tipp: Lass das Auto stehen. Von Oberstdorf aus fahren Busse direkt zum Eingang. Das spart Nerven und Parkgebühren, die man lieber später in ein Stück Kuchen investieren sollte.
Hunde dürfen übrigens mit rein, müssen aber an die kurze Leine. Manche Vierbeiner finden den Gitterrostboden und das tosende Wasser aber alles andere als lustig. Wenn dein Hund ängstlich ist, tu ihm den Gefallen und lass ihn zu Hause oder lauf eine andere Runde. Man sieht immer wieder Hunde, die sich mit eingezogenem Schwanz über die Stege zittern. Muss ja nicht sein.
Nach der Klamm ist vor der Brotzeit
Wer durch die Klamm durch ist, hat Hunger. Das ist ein Naturgesetz. Die feuchte Luft und das ständige Treppauf-Treppab zehren an den Reserven. Zum Glück ist das Allgäu ja nicht gerade bekannt für Kalorienarmut. Rund um die Klamm gibt es mehrere Möglichkeiten zur Einkehr. Die Alpe Dornach zum Beispiel liegt strategisch günstig auf dem Rückweg des Rundkurses. Da sitzt man dann auf der Terrasse, schaut in die Berge und hat einen Teller Kässpatzen vor sich, der für drei Tage reicht. Das gehört einfach dazu. Ohne anständige Brotzeit ist der Ausflug nur halb so viel wert.