Man muss sich die Lage von Oberstdorf wie einen Trichter vorstellen. Die Bundesstraße 19 führt direkt hinein und dann geht es für Autos faktisch nicht mehr weiter. Wer weiter will, muss laufen oder klettern. Das prägt den Charakter dieses Ortes ungemein. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, der nur mal eben schnell nach Österreich huschen will – dafür nimmt man die Autobahn weiter östlich. Wer hier landet, wollte auch hierhin. Das sorgt für eine seltsame Mischung aus entspannter Endstation und wuseligem Basislager. Der Talkessel liegt auf gut 800 Metern Höhe, umringt von den Allgäuer Alpen, die hier nicht sanft hügelig auslaufen, sondern schroff und steinig in den Himmel ragen. Drei Täler fächern sich vom Ort aus in die Berge: das Trettachtal, das Stillachtal und das Kleinwalsertal, wobei letzteres politisch zu Österreich gehört, aber geografisch nur von Oberstdorf aus erreichbar ist. Eine geografische Kuriosität, die im Alltag kaum auffällt, außer dass der Diesel an der Tankstelle drüben billiger ist und die Zigaretten auch.
Das Dorf selbst hat sich im Laufe der Jahrzehnte breit gemacht. Der historische Kern ist noch da, aber er wird umarmt von einem Gürtel aus Pensionen, Hotels und Ferienwohnungen. Architektonisch ist das nicht immer ein Guss. Neben wunderschönen, schindelverkleideten Bauernhäusern mit ihren typischen breiten Dächern stehen Zweckbauten der 70er Jahre, die den Charme von Waschbeton versprühen. Aber wenn die Sonne hinter dem Fellhorn untergeht und das Alpenglühen die Gipfel rot färbt, schaut da eh keiner so genau hin.
Dorfleben zwischen Tradition und Gore-Tex
Die Fußgängerzone ist das Herz, das manchmal etwas zu schnell schlägt. Hier reiht sich Sportgeschäft an Sportgeschäft. Man hat fast den Eindruck, es gäbe eine gesetzliche Verpflichtung, ab Ortseingang nur noch in Outdoor-Bekleidung herumzulaufen. Bunte Hardshell-Jacken dominieren das Straßenbild. Dazwischen mischen sich Einheimische, die man oft daran erkennt, dass sie eben keine Wanderstiefel tragen, wenn sie nur zum Bäcker gehen. Es riecht abwechselnd nach Bergkäse, Parfüm und der Abluft der zahlreichen Restaurants. Wer Ruhe sucht, ist im Ortskern am falschen Platz. Hier wird konsumiert, flaniert und gesehen. Aber biegt man zweimal falsch ab, steht man plötzlich in engen Gassen, wo Katzen auf Holzzäunen dösen und der Lärm der Hauptstraße wie abgeschnitten wirkt. Das ist das eigentliche Oberstdorf. Hier grüßt man sich noch, ein knappes "Griaß di" reicht völlig aus.
Ein Phänomen, das man erwähnen muss, ist die Autofreiheit. Große Teile des Zentrums sind für den Verkehr gesperrt. Das Auto bleibt am besten am Hotel oder auf einem der riesigen Parkplätze am Ortsrand stehen. Das entspannt die Lage, sorgt aber an Regentagen für volle Busse. Apropos Busse: Der "Ortsbus" ist eine Institution, aber man braucht manchmal Geduld und Kleingeld, auch wenn vieles mittlerweile mit der Gästekarte abgedeckt ist. Manchmal ist es schneller, einfach zu laufen.
Die Hausberge: Nebelhorn und Fellhorn
Das Nebelhorn ist der Angeber unter den Oberstdorfer Bergen. Mit 2.224 Metern ist es zwar nicht der allerhöchste, aber durch die Bahn, die direkt vom Ortsrand hochzieht, der präsenteste. Oben angeblich der Blick auf 400 Gipfel. Nachgezählt hat das wohl noch keiner der Touristen, die sich auf der Gipfelplattform drängen. Der Blick ist tatsächlich gewaltig, das muss man neidlos anerkennen. Man sieht weit hinein ins Hochalpine, bis in die Schweiz. Im Winter ist die Talabfahrt legendär steil, im Sommer ist das Nebelhorn Startpunkt für den Hindelanger Klettersteig. Nichts für Turnschuh-Touristen, auch wenn man die dort leider immer wieder sieht.
Gegenüber liegt das Fellhorn. Es gilt als der Blumenberg. Im Frühsommer blühen hier die Alpenrosen so intensiv rot, dass es fast in den Augen wehtut. Das Fellhorn ist zugänglicher, touristischer erschlossen im Sinne von breiten Wanderwegen. Man teilt sich den Gratweg oft mit vielen anderen. Wer Einsamkeit sucht, muss früh aufstehen oder spät kommen. Wenn die letzte Bahn fährt, kehrt oben eine Stille ein, die man unten im Tal vermisst. Einheimische gehen übrigens oft ganz woanders hin, auf Routen, die in keinen bunten Faltblättern stehen, aber das behalten sie verständlicherweise für sich.
Wasserwelten: Die Breitachklamm
Ein Besuch in der Breitachklamm gehört zum Pflichtprogramm, auch wenn das Wort Pflicht immer etwas anstrengend klingt. Aber diese Schlucht ist beeindruckend. Es ist die tiefste Felsenschlucht Mitteleuropas. Das Wasser der Breitach hat sich hier über Jahrtausende durch den Stein gefressen. Wenn es geregnet hat, ist das Spektakel am größten. Dann tobt das Wasser, es ist laut, es ist nass, es ist dunkel. Die Felswände stehen so eng, dass kaum Licht nach unten dringt. Man läuft auf gut gesicherten Stegen, unter einem das gurgelnde Inferno, über einem triefende Wände. Im Winter, wenn sich riesige Eiszapfen bilden, wirkt die Klamm wie eine Kathedrale aus Glas. Ein Tipp am Rande: Wenn alle gehen, also vormittags um zehn, ist es dort voll wie in der U-Bahn. Besser ist der späte Nachmittag. Das Licht ist dann weicher und man tritt sich nicht gegenseitig auf die Hacken.
Die stillen Täler: Oytal und Rohrmoos
Wer dem Trubel entfliehen will, geht in die Seitentäler. Das Oytal ist so ein Kandidat. Eine lange Allee führt hinein, rechts und links Wiesen, im Hintergrund bauen sich die Felswände auf wie eine Theaterkulisse. Am Ende des Tals liegt das Berggasthaus Oytalhaus. Der Weg dorthin zieht sich allerdings. Pfiffige Geschäftsleute verleihen dort oben Tretroller. Man wandert also hoch, isst eine Brotzeit und rollt dann mit einem Affenzahn die Teerstraße wieder runter. Das macht auch Erwachsenen einen Heidenspaß, auch wenn es albern aussieht. Vorsicht ist geboten, wenn einem das Vieh begegnet. Kühe haben auf dieser Straße immer Vorfahrt und sie wissen das auch.
Ganz anders das Rohrmoos. Es liegt etwas abseits, Richtung Westen. Hier findet man das älteste Holzkirchlein Deutschlands, St. Anna. Das Tal wirkt ursprünglicher, weniger inszeniert. Hier gibt es Moore und feuchte Wiesen. Im Herbst, wenn der Nebel über den Riedwiesen hängt, hat das fast etwas Mystisches. Es ist der Ort für diejenigen, die das Allgäu suchen, wie es vielleicht vor fünfzig Jahren mal war.
Sportkult und Schanzenturm
Man kann über Oberstdorf nicht schreiben, ohne den Sport zu erwähnen. Sobald der erste Schnee fällt, dreht sich alles um zwei Bretter. Die Vierschanzentournee macht den Ort Ende Dezember zum Nabel der Skisprungwelt. Die Schattenbergschanze (die jetzt offiziell nach einer Brauerei heißt, was aber keiner so richtig über die Lippen bringt) thront über dem Ort wie ein Wahrzeichen. Auch im Sommer kann man dort hoch. Der Blick vom Schanzenturm in den Auslauf ist schwindelerregend. Man fragt sich unweigerlich, was in den Köpfen der Springer vorgehen muss, die sich da hinunterstürzen.
Noch verrückter ist die Heini-Klopfer-Skiflugschanze im Stillachtal. Sie ist ein Monster aus Beton und Stahl, freistehend im Wald. Eine der größten Flugschanzen der Welt. Wer davor steht, fühlt sich ganz klein. Abseits des Profisports ist Oberstdorf ein Paradies für Langläufer. Die Loipen sind weltmeisterlich, schließlich wurden hier schon Nordische Ski-WMs ausgetragen. Man gleitet durch verschneite Wälder, hört nur den eigenen Atem und das Knirschen des Schnees. Das ist Wellness für die Seele, auch wenn die Oberschenkel brennen.
Kulinarik: Kässpatzen und mehr
Essen hält Leib und Seele zusammen, sagt man hier. Die Allgäuer Küche ist nicht unbedingt für ihre Leichtigkeit bekannt. Der Klassiker sind Kässpatzen. Richtige Kässpatzen sind eine ernste Angelegenheit. Es braucht den richtigen Käse (eine Mischung aus Bergkäse und Emmentaler, manchmal noch Romadur für die Würze) und viele Zwiebeln. Sie liegen schwer im Magen, geben aber Energie für den nächsten Aufstieg. Es gibt in Oberstdorf alles, vom Sternerestaurant bis zur Dönerbude. Aber am ehrlichsten isst man in den Wirtschaften oder auf den Hütten. Dort gibt es "Schübling" (eine Wurst), Krautkrapfen oder eben Brotzeitplatten. Dazu trinkt man Bier. Wein geht auch, aber Bier ist das Grundnahrungsmittel. Die Dampfbierbrauerei im Ort ist so ein Treffpunkt. Laut, gesellig, und das Bier ist süffig. Man sitzt an langen Holztischen, kommt schnell ins Gespräch. Oft sitzt man mit wildfremden Leuten zusammen und nach dem dritten Glas ist man per Du.
Kultur, die lebt
Oberstdorf ist kein Museumsdorf, auch wenn manche Ecken so aussehen. Der Viehscheid im September ist so ein Ereignis. Wenn die Kühe von den Alpen ins Tal getrieben werden, steht das Dorf Kopf. Es riecht nach Mist und Festzelt, die Schellen der Kühe machen einen Höllenlärm. Das ist Tradition, aber natürlich auch ein riesiges Touristenspektakel. Authentischer ist vielleicht ein Besuch im Heimatmuseum oder ein Spaziergang durch den Ortsteil Gerstruben. Dieses alte Bergbauerndorf steht unter Denkmalschutz. Die Häuser dort oben sind bis zu 500 Jahre alt, sonnenverbranntes Holz, dunkel und wettergegerbt. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie hart das Leben hier früher war, ohne Gore-Tex und beheizte Sessellifte.
Ein besonderes Kulturgut ist der Dialekt. Das Oberstdorferische ist selbst für andere Bayern eine Herausforderung. Es ist kehlig, vokalreich und eigenwillig. "Huigarte" nennt man das gemütliche Beisammensein und Ratschen. Wenn man als "Preiß" (also jeder nördlich der Donau) am Nebentisch lauscht, versteht man oft nur Bahnhof. Das macht aber nichts. Die Herzlichkeit ist meistens da, auch wenn der Allgäuer an sich erst mal abwartend ist. Man muss sich das Vertrauen verdienen, oder zumindest nicht negativ auffallen.
Praktische Notizen für das Basislager
Anreise: Der Zug ist eine echte Option. Der Bahnhof liegt mitten im Ort. Wer mit dem Auto kommt, braucht im Winter Winterreifen, und zwar gute. Schneeketten im Kofferraum zu haben, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Intelligenz.
- Gästekarte: Die Allgäu-Walser-Card gibt es beim Einchecken. Damit sind Busse und manche Eintritte günstiger oder inklusive. Unbedingt nutzen.
- Beste Zeit: Februar für Wintersportler, September für Wanderer. Der Mai ist oft noch nass, der November meist grau und tot (viele Hotels haben dann Betriebsferien).
- Ausrüstung: Zwiebelprinzip. Das Wetter in den Bergen ändert sich schneller, als man die Wetter-App aktualisieren kann. Sonne im Tal heißt nicht Sonne am Gipfel.