Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Abstieg in die Unterwelt: Mythen und Legenden der Sturmannshöhle

180 Stufen führen direkt in den Schlund des Berges, wo es sommers wie winters kühlschrankkalt bleibt. Hier unten regieren keine Tropfsteine, sondern nackter Fels und uralte Sagen, die einem kalte Schauer über den Rücken jagen.

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Zwischenablage

Man muss erst einmal hinauf, bevor es hinab geht. Das ist die erste Ironie, die einem begegnet, wenn man sich entscheidet, die Sturmannshöhle bei Obermaiselstein zu besuchen. Der Parkplatz liegt unten im Tal, unspektakulär und asphaltiert, während der Eingang zur Höhle sich dreihundert Höhenmeter weiter oben im Wald versteckt. Schon der Aufstieg ist eine kleine Prüfung für die Waden. Es riecht nach Fichtenharz und feuchtem Boden, typisch Allgäu eben, aber je näher man dem Höhleneingang kommt, desto mehr mischt sich eine kühle, modrige Note in die Luft. Der Wegweiser sagt "Sturmannshöhle", aber eigentlich läuft man auf eine geologische Kuriosität zu, die in dieser Dichte im Oberallgäu ihresgleichen sucht.

Die meisten Touristen erwarten Tropfsteine. Das ist der Klassiker. Stalagmiten, Stalaktiten, bunte Lichter, vielleicht noch eine kleine Fee aus Plastik für die Kinder. Wer mit dieser Erwartung hier ankommt, wird enttäuscht sein – oder fasziniert, je nachdem, wie offen man für das Rohe und Unverfälschte ist. Die Sturmannshöhle ist nämlich eine Spalthöhle. Das klingt technisch, ist aber im Grunde brutal einfach: Hier hat das Wasser nicht über Jahrtausende den Stein ausgehöhlt. Hier ist der Berg einfach auseinandergebrochen.

Geologie mit Gewalt

Vor etwa 120 Millionen Jahren bildete sich der Schrattenkalk, aus dem der Schwarzenberg besteht. Viel später, als sich die Alpen auffalteten, geriet dieser Berg unter gewaltigen Stress. Man muss sich das vorstellen wie einen zu trockenen Rührkuchen, den man versucht zu biegen. Er reißt. Genau das ist hier passiert. Eine gewaltige Spannung hat den Fels gespalten, und in diesen Riss klettern wir heute hinein. Es gibt keine weichen Rundungen, keine sanft geschliffenen Tunnel. Alles hier ist eckig, scharfkantig und wirkt irgendwie provisorisch, als könnte sich der Riss jederzeit wieder schließen, wenn der Berg es sich anders überlegt.

Beim Eingang bekommt man noch mal Tageslicht ab, bevor die künstliche Beleuchtung übernimmt. Jacke zu, Mütze auf. Es hat hier drinnen konstant zwischen vier und acht Grad Celsius. Egal, ob draußen die Sonne den Asphalt schmilzt oder Schnee liegt. Diese Konstanz ist fast schon unheimlich. Man verlässt die normale Welt mit ihren Jahreszeiten und betritt einen zeitlosen Raum. Der Weg führt über Gitterroste und Treppenstufen. Man schaut nach unten und sieht – oft nichts. Nur Schwärze. Manchmal hört man Wasser plätschern, tief unter den Füßen. Das ist der Höhlenbach, der sich seinen Weg durch die untersten Etagen sucht. Er ist der Architekt, der jetzt noch den Feinschliff macht, während die Tektonik die Grobarbeit schon vor Äonen erledigt hat.

Die Mär von den Wilden Fräulein

Ganz ehrlich, wenn man da unten steht, zwischen diesen kalten, nassen Wänden, die so eng zusammenstehen, dass man die Schultern einziehen möchte, versteht man sofort, warum die Menschen früher Angst hatten. Ein solcher Ort kann nicht einfach nur "Geologie" sein. Da muss mehr dahinterstecken. Die Fantasie der Allgäuer ist ohnehin recht blühend, was düstere Gestalten angeht, und die Sturmannshöhle ist der perfekte Nährboden dafür.

Die bekannteste Sage dreht sich um die "Wilden Fräulein". Das waren keine Monster, sondern eher scheue Naturgeister. Man erzählt sich, sie hätten in der Höhle gewohnt, lange bevor der erste Tourist Eintritt bezahlte. Diese Fräulein waren den Menschen wohlgesinnt. Sie halfen den Bauern im Tal bei der Arbeit, hüteten das Vieh oder halfen beim Heuen. Aber sie hatten eine Bedingung: Man durfte sie nicht belohnen und schon gar nicht ärgern. Ein Bauer, so geht die Geschichte, wollte sich bedanken und schenkte ihnen neue Kleider (vielleicht, weil ihre eigenen vom Höhlenleben etwas zerlumpt waren). Die Fräulein sahen das als Beleidigung oder als Zeichen, dass ihre Zeit abgelaufen war, und verschwanden auf Nimmerwiedersehen im dunklen Schlund des Berges. Manche sagen, man hört sie heute noch weinen, wenn der Wind ungünstig durch die Spalten pfeift.

Historisch gesehen ist das Motiv der "Wilden Leute" im Alpenraum weit verbreitet. Es steht oft für das unzivilisierte, aber reine Leben in der Natur, das durch die menschliche Zivilisation (symbolisiert durch die geschenkte Kleidung) verdrängt wird. Hier in der Höhle bekommt die Sage aber eine physische Präsenz. Wenn man vor dem "Drachentor" steht, einer Engstelle tief im Berg, fragt man sich unweigerlich, wer oder was wohl dahinter hausen mag.

Abstieg in die Finsternis

Die Führung beginnt meistens harmlos. Der Guide erzählt ein paar Fakten, leuchtet mit der Taschenlampe auf ein paar Gesteinsschichten. Aber dann geht es die Treppen hinunter. 180 Stufen sind es bis zum tiefsten begehbaren Punkt. Das klingt machbar, aber die psychologische Komponente wiegt schwerer als die körperliche Anstrengung. Die Wände rücken näher. Der "Adlergang" ist so eine Stelle. Man muss den Kopf einziehen. Das Gestein ist feucht, "batzig" würde der Allgäuer vielleicht sagen, wenn er Dreck an den Schuhen hat, aber hier ist es eher ein kalter Schweiß, der auf dem Kalkstein liegt.

Interessant ist die Akustik. Ruft man oben, verschluckt die Tiefe den Schall fast augenblicklich. Es hallt nicht so schön wie in einer Kathedrale. Der Schall bricht sich an den tausend Kanten und Ecken. Das macht die Atmosphäre sehr intim und bedrückend zugleich. Man flüstert automatisch. Niemand brüllt hier unten herum. Außer vielleicht ein Kind, das sich erschreckt hat.

An einer Stelle weitet sich der Spalt etwas. Hier soll angeblich ein Drache gehaust haben. Natürlich, eine Höhle ohne Drachen ist wie ein Allgäuer ohne Käse – unvollständig. Der Drache bewachte einen Schatz, logisch. Mutige Männer versuchten, ihn zu bergen, kamen aber nie zurück oder wurden wahnsinnig. Wahrscheinlich sind sie einfach in einen der vielen tiefen Schächte gestürzt, die heute noch von Höhlenforschern untersucht werden. Denn das, was wir als Touristen sehen, ist nur ein Bruchteil des gesamten Systems. Es geht noch viel tiefer, viel enger weiter. Bis heute ist nicht jeder Winkel der Sturmannshöhle erforscht. Das Wissen darum, dass unter dem Gitterrost noch hunderte Meter unerforschtes Dunkel liegen, macht den Reiz aus.

Die Geschichte der Entdeckung

Es waren nicht immer Wissenschaftler, die hier herumgekrochen sind. Lange Zeit mieden die Einheimischen den Ort. Der "Sturmann", wie der Berg genannt wird, galt als unheimlich. Erst um 1905 herum begann die systematische Erschließung. Ein gewisser Joseph Zwilcher, seines Zeichens Arzt und wohl mit zu viel Freizeit gesegnet, trieb die Sache voran. Man muss sich das mal vorstellen: Ohne modernes elektrisches Licht, nur mit Fackeln oder Karbidlampen in diesen Riss zu klettern. Ein falscher Tritt, und man rutscht auf dem glitschigen Kalk ab und verkeilt sich in einer Spalte, aus der man sich alleine nicht mehr befreien kann.

Der touristische Ausbau erfolgte dann relativ schnell, auch wenn es immer wieder Rückschläge durch Steinschlag oder Wasser gab. Heute ist alles gesichert. Es gibt Geländer, die Beleuchtung ist dramaturgisch gesetzt (mal grün, mal gelb, was ein bisschen kitschig wirkt, aber hilft, die Tiefe wahrzunehmen). Trotzdem bleibt das Gefühl, dass wir hier nur geduldete Gäste sind. Wenn das Licht ausfiele – was theoretisch nicht passieren sollte, aber man weiß ja nie –, wäre die Orientierungslosigkeit total. Schwarz ist hier wirklich schwarz.

Praktische Überlebensstrategien für Besucher

Kommen wir mal zum Praktischen. Wer die Sturmannshöhle besuchen will, sollte festes Schuhwerk tragen. Ich habe Leute in Sandalen gesehen. Keine gute Idee. Die Gitterroste sind zwar stabil, aber oft nass, und die Stufen können rutschig sein. Außerdem ist es kalt. Selbst im Hochsommer, wenn man draußen bei 30 Grad schwitzt, braucht man drinnen einen Fleece oder eine Jacke. Der Temperatursturz ist brutal und sorgt gerne mal für eine Erkältung am nächsten Tag.

Die Führung dauert etwa 40 bis 50 Minuten. Das ist kurzweilig, aber lang genug, um durchzufrieren, wenn man nur im T-Shirt dasteht. Fotos sind erlaubt, aber ohne Stativ schwierig, weil es eben doch recht duster ist. Der Blitz macht meistens die Stimmung kaputt und lässt den Fels nur grau und flach aussehen.

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