Zwischen Zugspitze und Neuschwanstein liegt eine Bergwelt, die man so nicht erwartet. Die Ammergauer Alpen sind überraschend ruhig geblieben, obwohl sie von zwei der bekanntesten Touristenmagneten Bayerns eingezahnt werden. Das hat durchaus System. Im Vergleich zu anderen bayerischen Alpenregionen gibt es hier weniger Hütten, weniger Bergbahnen, weniger Infrastruktur. Und genau das macht den Reiz aus.
Seit 2017 ist die Region offiziell als Naturpark ausgewiesen. Mit 227 Quadratkilometern ist er einer der kleinsten in Bayern, zugleich aber auch einer der vielseitigsten. Fünf verschiedene Landschaftstypen prägen das Gebiet: ursprüngliche Wälder, raue Berge, Moore, bunte Wiesen und Wildflüsse. Die Ammer hat sich hier durch Konglomerat- und Sandstein gefressen und dabei den längsten intakten Flusscanyon Deutschlands geschaffen.
Was viele nicht wissen: Die Ammergauer Alpen beherbergen eines der größten zusammenhängenden Bergmischwald-Vorkommen Deutschlands. Im Gegensatz zu den monotonen Fichtenwäldern anderer Regionen ist die Vegetation hier deutlich abwechslungsreicher. Manche Waldgebiete sind urwaldnah, andere wiederum labiler Altersklassenforst. Dazwischen gluckst und schmatzt es, denn die Moore sind hier noch intakt.
Moore, die mehr speichern als alle Wälder der Welt
Nach der letzten Eiszeit haben sich in den Ammergauer Alpen außergewöhnlich viele Moore gebildet. Das Ettaler Weidmoos an den Ammerquellen ist nur das bekannteste davon. Besonders wertvoll sind die kleineren Hochmoore, die teilweise auf über 1000 Metern Höhe liegen. Diese Moore bedecken zwar nur drei Prozent der Landoberfläche, speichern aber mehr CO₂ als alle Wälder der Erde zusammen. Durch die Nässe, den sauren pH-Wert und die Nährstoffarmut sind sie Lebensraum für seltene Pflanzen wie das Karlszepter, den Sonnentau oder verschiedene Orchideenarten.
Die Moorkomplexe Weidmoos, Pulvermoos und Kochelfilz weisen mehrere Eiszeitrelikte auf. Das kommt nicht von ungefähr: Die Eiszeiten hinterließen hier verlandete Seen und durch die Grundmoränen ein vielfältiges Kleinrelief mit kleinräumig sich ändernden Wasserverhältnissen. Dadurch konnten sich vielfältig miteinander vernetzte Nieder-, Zwischen- und Hochmoorkomplexe bilden. Praktisch: Die kleinstrukturierte Landwirtschaft, oft in Genossenschaften organisiert, verhinderte eine großflächige Entwässerung.
Wälder, die man sich verdienen muss
Wer in die tiefen Wälder der Ammergauer Alpen will, muss sich die Ruhe erst einmal erwandern. Das Graswangtal bei Ettal und Linderhof gilt unter Kennern als Geheimtipp. Hier zeigen sich die Ammergauer von ihrer lieblichen Seite. Bergtouren wie die Kreuzspitze oder die Große Klammspitze führen durch abwechslungsreichen Bergwald, vorbei an rauschenden Bächen und durch stille Täler.
Noch einsamer wird es im abgelegenen Gebiet nördlich des Klammspitzkamms. Hier verteilen sich zahlreiche kleinere Moore, die kaum erschlossen sind. Manche Steige müssen dringend häufiger begangen werden, weil sie schon zuwuchern. Wanderer, die Einsamkeit suchen, finden sie hier garantiert. Das Scheinbergjoch etwa, das aus dem Graswangtal zu erreichen ist, verlangt zwar stellenweise Trittsicherheit, dafür genießt man aber einen sehr ruhigen und abgeschiedenen Teil der Ammergauer Alpen.
Der Grubenkopf kann fast schon als Geheimtipp gelten. Im Vergleich zu den viel bekannteren Nachbargipfeln Klammspitze oder Hochplatte ist es hier deutlich ruhiger. Wegen seiner vorgeschobenen Alpenrand-Lage bietet er ein besonders schönes Panorama. Die überwiegend einfache Bergwanderung führt durch lauschigen Bergwald, vorbei an aussichtsreichen Lichtungen.
Die Schleifmühlklamm und andere versteckte Juwelen
Manche Ziele sind schlicht zu schön, um ganz geheim zu bleiben. Die Schleifmühlklamm bei Unterammergau ist so ein Ort. Früher waren hier die Wetzsteinmacher aktiv, heute schlängelt sich ein Weg unter dem Blätterdach des Bergwalds hinauf. Mehrere rauschende Wasserfälle und glasklare Gumpen säumen den Pfad. An heißen Sommertagen ist das ein buchstäblich erfrischender Abstecher.
Der Soier See bei Bad Bayersoien ist dagegen ein eher stilles Gewässer. Das Landschaftsschutzgebiet war bereits bei den Kelten besiedelt. Heute kann man hier zur Ruhe kommen und Libellen, Sonnentau, Enziane beobachten. Der Waldboden nahe des Sees gluckert und gluckst, gurgelt und schmatzt. Ein Moorlehrpfad führt durch das Gebiet.
Wiesmahdwege und Wiesmahdhänge
Eine Besonderheit der Ammergauer Alpen sind die Wiesmahdhänge. Die durch Hanggräben zerschnittenen Flyschabhänge des Aufacker-Hörnle-Massivs und der Unterammergauer Vorberge sind weit hinauf mit basenreichen, großflächig gebuckelten Jungmoränen und Fließerden überdeckt. Hier hat sich neben den Mittenwalder Buckelwiesen die größte, noch betriebene Berg- und Wiesmahdlandschaft Bayerns entwickelt.
Der 18 Kilometer lange Ammergauer Wiesmahdweg zwischen Grafenau und Oberammergau führt durch diese Landschaft. Im Sommer ist das ein Dschungel aus kniehohen Wildblumen. Es zirpt und piepst, summt und brummt. Schmetterlinge flattern über die Blumenwipfel, Feldhasen hocken im Gras. Die Südhänge oberhalb von Oberammergau und Unterammergau sind so arten- wie aussichtsreich. Kalkmagerrasen, bodensaure Magerrasen und Hangquellmoore gehen oft unmerklich ineinander über.
Praktisches für Waldläufer
Der Naturpark Ammergauer Alpen umfasst die Gemeinden Oberammergau, Unterammergau, Ettal, Saulgrub/Altenau, Bad Kohlgrub und Bad Bayersoien. Von München ist die Region bequem mit dem Zug zu erreichen. In Murnau steigt man in die Regionalbahn um und gelangt über Bad Kohlgrub, Saulgrub, Altenau und Unterammergau nach Oberammergau. Aus Richtung Innsbruck nimmt man den Zug über Garmisch-Partenkirchen bis Oberau, von dort geht es mit Regionalbussen weiter.
Das Wanderwegenetz umfasst über 500 Kilometer. Die Beschilderung ist gut, Wanderkarten gibt es in den Tourismusbüros. Wer es ganz ruhig mag, sollte die Hauptsaison und Wochenenden meiden. Unter der Woche und außerhalb der Ferienzeiten hat man viele Wege praktisch für sich allein. Auch bei leicht trübem Wetter lässt sich hier hervorragend wandern, während sich anderswo die Massen ballen.
Die Hüttendichte ist geringer als in anderen bayerischen Bergregionen. Das Pürschlinghaus, das August-Schuster-Haus und die Brunnenkopfhütte gehören zu den beliebteren Einkehrmöglichkeiten. Wer übernachten möchte, findet in den Naturparkgemeinden eine gute Auswahl von traditionellen Gasthöfen bis zu Ferienwohnungen. Unterammergau gilt als der Geheimtipp für alle, die eine ruhige und erholsame Übernachtungsmöglichkeit bevorzugen.
Zwischen Kultur und Wildnis
Die Ammergauer Alpen sind auch deshalb so besonders, weil hier Kultur und unberührte Natur direkt nebeneinander existieren. Schloss Linderhof und Kloster Ettal sind nur wenige Kilometer von den wildesten Bergwäldern entfernt. König Ludwig II. war derart begeistert vom Ammergebirge, dass er hier gleich zwei Schlösser errichten ließ. Das Schloss Linderhof ist das einzige der drei Königsschlösser, dessen Vollendung er erlebte.
Vom Schloss aus beginnt der ehemalige Reitweg zu den Brunnenkopfhäusern, wo der Monarch seinerzeit Ruhe und Einsamkeit suchte. Ruhig und einsam ist es heutzutage allerdings nur noch im Spätherbst und im Winter, wenn die Brunnenkopfhütte geschlossen hat. Die Tour ist bis zur Hütte sehr einfach, der Gipfelanstieg erfordert jedoch auf wenigen Metern Trittsicherheit.
Oberammergau selbst ist wegen seiner Lüftlmalereien, der Holzschnitzereien und der alle zehn Jahre stattfindenden Passionsspiele weltbekannt. Trotzdem geht es hier deutlich ruhiger zu als an der Zugspitze oder rund um Neuschwanstein. Wer durch den Ort spaziert und dann in die umliegenden Berge aufbricht, erlebt den Kontrast zwischen bayerischer Kultur und wilder Bergwelt hautnah.
Naturpark-Ranger und geführte Touren
Seit der Ausweisung als Naturpark kümmern sich Koordinatoren und Ranger um Naturschutz, Landschaftspflege und Umweltbildung. Regelmäßig finden sonntags Rangerführungen statt, bei denen man tiefere Einblicke in die Besonderheiten der Region bekommt. Die Ranger kennen die versteckten Ecken, wissen, wo man Steinadler bei der Balz beobachten kann und führen auf geologische Zeitreisen.
Bei den Führungen wird der Naturpark zum spannenden Freiluft-Klassenzimmer. Man erfährt, warum Moore so wichtig für den Klimaschutz sind, wie die eiszeitlichen Relikte überlebt haben und welche Rolle der Mensch in dieser Kulturlandschaft spielt. Das Konzept "Dein Freiraum. Mein Lebensraum" soll dabei helfen, die sensible Natur zu schützen und gleichzeitig die heimische Landwirtschaft zu unterstützen.
Fauna mit Seltenheitswert
Die Ammergauer Alpen beherbergen vom Aussterben bedrohte Vogelarten wie Auerhuhn oder Birkhuhn, stark gefährdete wie Alpenschneehuhn oder Steinadler weisen hier teilweise noch stabile Bestände auf. Biber fühlen sich in der Gegend ebenso wohl wie in den höheren Lagen die großen Greifvögel. Der Naturpark ist bei Arten des alpiden und nordisch-subarktischen Verbreitungstyps einschließlich der Eiszeitreliktpflanzen und -tiere Spitzenreiter im deutschen Naturparksystem.
Mit der höchsten Gebirgsartenvielfalt und der größten Höhenspanne aller deutschen Naturparke von 800 bis 2185 Metern über dem Meeresspiegel kann der Naturpark als wahrlich einzigartig gelten. Seine Natur- und extensiven Kulturlandschaften sind nach Erhaltungszustand und Lebensraumspektrum von nationaler, teilweise internationaler Bedeutung.
Wann lohnt sich der Besuch?
Die Ammergauer Alpen lohnen sich das ganze Jahr über. Im Frühling verwandeln sich die Wiesmahdhänge in bunte Blumenmeere. Der Sommer ist ideal für ausgedehnte Bergtouren, wobei die nordseitigen Touren teilweise bis Anfang Juni Schneefelder aufweisen können. Der nach Süden exponierte Anstieg vom Schloss Linderhof zur Brunnenkopfhütte apert dagegen sehr früh aus.
Der Herbst ist die stillste Zeit. Wenn die Brunnenkopfhütte geschlossen hat und die Touristenströme abebben, gehören die Wälder den Wanderern praktisch allein. Die Farben sind jetzt besonders intensiv, das Licht weicher. Im Winter verwandelt sich die Region in ein Langlaufparadies mit weitverzweigten, meist schneesicheren Loipenverbindungen zwischen den Ortschaften. Jedes Jahr am ersten Februarwochenende findet der König-Ludwig-Lauf zwischen Ettal, Schloss Linderhof und Oberammergau statt.
Abseits der ausgetretenen Pfade
Wer wirklich Einsamkeit sucht, sollte sich in die weniger bekannten Ecken vorwagen. Der Hochschergen zwischen Saulgrub und Unternogg ist beinahe ein Ganzjahresziel. Ein einfacher Weg führt durch lauschigen Bergwald zu einer großen sonnigen Wiese mit vielen Bänken. Die Geierköpfe liegen versteckt und bieten mit ihren drei Gipfeln eine schöne Überschreitung für geübte Bergsteiger. Einsam und wild ist die Tour.
Der Hohe Ziegspitz bei Garmisch ist ein echter Geheimtipp, obwohl die Stepbergalm nur eine Stunde vor dem Gipfel liegt. Das Kienjoch verspricht viel Einsamkeit, denn die Tour ist anspruchsvoll und wird wenig begangen. Dabei genießt man vom Gipfel eine wunderbare Aussicht über die Gipfel der Ammergauer Alpen.
Selbst in stark besuchten Regionen gibt es durchaus einsame Wege. Gerade im Karwendel, den Ammergauern wird so mancher Gipfel jedes Jahr nur wenige Male besucht. Viele Steige müssten dringend häufiger begangen werden, weil sie schon zuwuchern. Die weißen Flecken zwischen den Hauptanziehungspunkten sind riesig. Freilich kostet es deutlich mehr Mühe, sich auf Entdeckungstour nach den unbekannten Ecken zu machen, ist oft anstrengender und mitunter auch gefährlicher.
Was man mitbringen sollte
Für die Bergwälder der Ammergauer Alpen braucht man keine Spezialausrüstung, aber gutes Schuhwerk ist Pflicht. Die Wege sind zwar gut markiert, aber oft schmal und stellenweise wurzelig. Trittsicherheit ist bei vielen Touren Voraussetzung, vor allem wenn es in die höheren Lagen geht. Wetterfeste Kleidung gehört ins Gepäck, auch im Sommer kann es in den Bergen schnell kühl werden.
Verpflegung sollte man für längere Touren ausreichend dabei haben, denn die Hütten sind rar gesät. Trinkwasser lässt sich an vielen Bergbächen auffüllen, die Wasserqualität ist in der Regel gut. Eine kleine Erste-Hilfe-Ausrüstung und ein aufgeladenes Handy für Notfälle gehören zur Grundausstattung.