Es ist ein seltsames Phänomen. Tausende, nein, Zehntausende stehen unten auf den Parkplätzen, starren auf ihre Smartphones oder auf die weißen Türme von Schloss Neuschwanstein. Aber dreht man den Kopf in den Nacken, sieht man die eigentliche Herausforderung: den Tegelberg. 1.720 Meter hoch, massiv, abweisend und doch einladend für alle, die dem Trubel entkommen wollen. Du kannst natürlich die Bergbahn nehmen, diese silbernen Kabinen, die an Seilen hängend die Touristen im Minutentakt nach oben schaufeln. Das ist bequem, sicher. Aber der wahre Charakter dieses Berges erschließt sich erst, wenn der Puls ein bisschen rast.
Der Tegelberg ist keine einsame Wildnis. Er ist erschlossen, beliebt und oft voll. Aber er hat Charakter. Er ist die raue Antwort auf die polierte Schlossromantik im Tal. Wer sich auf ihn einlässt, bekommt zwar Muskelkater, aber auch Bilder im Kopf, die länger halten als jeder Instagram-Post vom Schloss Neuschwanstein. Und am Ende des Tages, wenn man die Schuhe auszieht und die Socken qualmen, weiß man: Das war echt.
Wer sich die "Königsrunde" vornimmt, sollte früh aufstehen. Nicht wegen der Hitze, sondern wegen der Ruhe. Das Allgäu schläft morgens noch halb, der Nebel hängt oft zäh über dem Forggensee, und die Luft riecht nach feuchtem Gras und Kuhdung. Kein Parfüm aus dem Duty-Free-Shop, sondern echte Natur. Der Aufstieg über den "Schutzengelweg" ist der Klassiker. Ein breiter Schotterweg, ursprünglich angelegt, damit die Herrschaften damals halbwegs bequem zur Jagd kamen. Heute joggen hier die ganz Fitten hoch, während der Normalwanderer eher schnauft. Es zieht sich. Man gewinnt an Höhe, und mit jedem Meter schrumpft das Märchenschloss unten zu einem Spielzeug zusammen.
Die Gelbe Wand: Nichts für Sandalenträger
Falls dir der Schotterweg zu langweilig ist, gibt es eine Alternative, die ein bisschen mehr Pfeffer hat: den Steig über die "Gelbe Wand". Der Name ist Programm. Der Kalkstein leuchtet hier tatsächlich in einem warmen, fast ockerfarbenen Ton, wenn die Sonne draufknallt. Es ist kein extremer Klettersteig, bei dem man Bizeps aus Stahl braucht, aber es ist definitiv kein Spaziergang. Ein Lehrpfad war das mal, inzwischen ist es eine Route, bei der man die Hände aus den Hosentaschen nehmen muss. Drahtseile sichern die kniffligen Stellen. Du hörst hier oft das Klicken der Karabiner von Leuten, die ihr Klettersteigset testen. Manchmal hört man auch das leise Fluchen von jemandem, der seine Höhenangst unterschätzt hat.
Hier zeigt sich das Allgäu von seiner rauen Seite. Der Fels ist griffig, manchmal brüchig. Gämsen sieht man hier öfter als unten im Wald. Die Tiere stehen oft völlig unbeeindruckt in der steilen Wand und kauen, während man selbst versucht, nicht abzurutschen. Es hat was Beruhigendes, diese Gleichgültigkeit der Natur zu beobachten. Oben am Ausstieg, kurz bevor man auf die Terrasse der Bergstation stolpert, brennen die Oberschenkel ordentlich. Das gehört dazu. "Ohne Fleiß kein Preis" sagt man hier, und selten stimmt das so sehr wie am Berg.
Der Zirkus an der Bergstation
Dann der Kulturschock. Du kommst oben an, und plötzlich ist es laut. Die Bergstation der Tegelbergbahn ist ein Hubschrauberlandeplatz für Touristen, nur ohne Hubschrauber. Hier oben mischt sich alles: Wanderer in voller Montur, Tagesausflügler in Jeans und Turnschuhen, die mit der Bahn hochgefahren sind, und vor allem: die Flieger. Der Tegelberg ist eines der bekanntesten Reviere für Gleitschirm- und Drachenflieger in Deutschland. Wenn das Wetter passt, sieht der Himmel aus wie ein bunter Flickenteppich. Es ist faszinierend, sich mit einem Bier (oder einer Apfelschorle, wir wollen ja vernünftig bleiben) auf die Holzbank zu setzen und dem Treiben zuzusehen.
Startvorbereitungen sind ein Ritual. Leinen sortieren, Schirm ausbreiten, Wind prüfen, warten. Dann: drei schnelle Schritte, ein Ruck, und der Boden ist weg. Für den Zuschauer sieht das spielerisch aus, fast schwerelos. Manchmal hört man die Piloten juchzen, wenn sie die erste Thermik erwischen. Es ist laut hier, geschäftig, fast wie auf einem Jahrmarkt, aber mit der gigantischen Kulisse der Alpen im Rücken. Wer Einsamkeit sucht, ist an der Bergstation falsch. Wer aber das Gefühl von Freiheit zumindest visuell aufsaugen will, der bleibt hier eine Weile sitzen.
Zum Branderschrofen: Wo der "Kini" wirklich war
Aber wir wollen ja weiter, weg vom Trubel. Der Weg zum Branderschrofen, dem eigentlichen Gipfel, ist die Kür. Von der Station aus sieht der Weg erst harmlos aus, schlängelt sich durch Latschenkiefern. Aber dann wird es felsig. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Die Touristen mit den glatten Sohlen bleiben meistens am ersten Aussichtspunkt hängen. Wer weitergeht, muss trittsicher sein. Der Fels ist poliert von tausenden Bergschuhen, bei Nässe eine Rutschbahn. Es gibt Drahtseile, an denen man sich festhalten kann (und sollte). Der Weg ist schmal, rechts geht es runter, links geht es runter. Eine Gratwanderung im wahrsten Sinne des Wortes.
Am Gipfelkreuz des Branderschrofen ist meist weniger los. Der Blick reicht weit hinein in die Ammergauer Alpen, rüber zur Zugspitze, und auf der anderen Seite liegt das flache Alpenvorland wie eine Landkarte ausgebreitet. Der Forggensee blitzt türkisblau, und man versteht plötzlich, warum Ludwig II. sich genau diese Ecke ausgesucht hat. Der "Kini", wie die Einheimischen ihn nennen, war nämlich gar nicht so der Stubenhocker, als den man ihn oft darstellt. Er liebte seine Berge. Er ließ sich sogar eine Hütte hier oben bauen, das "Tegelberghaus", das heute noch steht, ein paar Meter unterhalb der Bergstation. Damals war das seine private Rückzugszone. Heute kann jeder hier essen, was dem Monarchen vielleicht nicht so gepasst hätte.
Es ist stiller hier oben am Gipfel. Man hört nur den Wind, der in den Felsspalten pfeift, und vielleicht das ferne Bimmeln von Kuhschellen, das irgendwie immer dazugehört, egal wie hoch man ist. Ein Dohle segelt vorbei, hofft auf Krümel deiner Brotzeit. Diese schwarzen Vögel sind die wahren Herrscher des Gipfels, frech und flugtechnisch perfekt. Gib ihr nichts, sonst wirst du sie nie wieder los.
Der Abstieg: Knie oder Gondel?
Der Rückweg stellt einen vor die klassische Frage: Knie kaputt machen oder Geld ausgeben? Die Bahn bringt einen in zehn Minuten runter. Der Abstieg zu Fuß dauert locker zwei Stunden und geht in die Substanz. Wer sich für den Fußweg entscheidet, kommt an der Rohrkopfhütte vorbei. Das ist so eine Art Institution am Berg. Die Hütte liegt auf halber Höhe und ist meistens brechend voll, aber die Atmosphäre ist urig. Holzverkleidung, der Geruch von Sauerkraut und Bratfett, stimmiges Gemurmel in diversen Dialekten.
Ein Kaiserschmarrn hier ist fast schon Pflicht. Er ist nicht billig, das muss man ehrlich sagen, und manchmal wartet man ewig, weil die Bedienungen rotieren wie die Propeller. Aber wenn der Teller dann kommt, dampfend, mit Zwetschgenröster, ist der Ärger verflogen. Man sitzt auf der Terrasse, schaut auf die Seenplatte und denkt sich: Passt schon. Das ist dieses bayerische Lebensgefühl, das man nicht kaufen, sondern nur erwandern kann.
Naturkunde am Wegesrand
Was vielen beim schnellen Auf- und Abstieg entgeht, ist die Botanik. Der Tegelberg ist ein Kalkberg, und das sorgt für eine spezielle Flora. Im Frühsommer blüht hier der Enzian – nicht der große, stängellose, den man von Schnapsflaschen kennt, sondern oft der kleinere, bayerische Enzian. Auch Silberwurz und Alpenrosen klammern sich an die kargen Hänge. Man muss nur mal stehen bleiben und nicht auf die Uhr schauen. Es lohnt sich, den Blick vom Panorama abzuwenden und auf den Boden zu richten. Zwischen den grauen Steinen explodiert das Leben in Farben, die kein Maler so hinbekommt.
Praktische Tipps für den Trip
Die Parkgebühren unten sind übrigens gesalzen. Das sollte man wissen, bevor man hinfährt. Kleingeld ist gut, Karte geht meistens auch, aber die Automaten haben ihre Launen. Es ist ein kleiner Wermutstropfen am Ende eines langen Tages, aber so ist das eben im touristischen Hotspot Nummer eins. Man zahlt für die Logenplätze.
Noch ein paar Fakten für die Planung, ganz trocken:
- Ausrüstung: Turnschuhe sind okay für den Weg zur Hütte, aber wer zum Gipfel will oder die Gelbe Wand macht, braucht Wanderschuhe mit Profil. Das Wetter schlägt hier oben schnell um. Regenjacke gehört in den Rucksack, auch wenn morgens die Sonne lacht.
- Zeitmanagement: Die Bahn fährt im Sommer meist bis 17:00 Uhr, manchmal länger. Check das vorher. Wer die letzte Bahn verpasst, läuft. Und im Dunkeln den Schutzengelweg runterzuholpern, macht keinen Spaß.
- Wasser: Nimm genug mit. Auf der Hütte und an der Station gibt es zwar alles, aber die Preise sind "königlich". Ein Liter Wasser im Rucksack spart Nerven und Geldbeutel.
- Der "Geheimtipp": Eigentlich gibt es hier keine Geheimtipps mehr. Aber wenn du unter der Woche gehst, am besten Dienstag oder Mittwoch, und nicht gerade in den bayerischen Schulferien, hast du eine Chance auf relative Ruhe. Wochenenden sind Kampftage.