Oberallgäu & Allgäuer Alpen

Der Viehscheid im Oberallgäu: Wo der Almabtrieb zum Volksfest wird

Tausende Schellen, die lauter dröhnen als jede Kirchturmglocke. Das ist kein Folklore-Kitsch für Postkarten, das ist der Viehscheid im Oberallgäu: laut, dreckig und absolut ehrlich.

Kommentare
Teilen
Facebook
Pocket
E-Mail
0
Kommentare
Facebook
Pocket
E-Mail
Zwischenablage

Es beginnt meist früh am Morgen, wenn der Nebel noch zäh in den Tannen hängt. Unten im Tal, in Orten wie Bad Hindelang, Oberstdorf oder Gunzesried, stehen die Menschen schon dicht gedrängt an den Straßenrändern. Man wartet. Und dieses Warten hat eine ganz eigene Qualität. Es ist nicht die Ungeduld einer U-Bahn-Station, sondern eine fast ehrfürchtige Anspannung. Denn was da gleich kommt, markiert eine Zäsur im Jahreslauf. Der Alpsommer endet. Punkt. Für die Einheimischen ist der Viehscheid wichtiger als Silvester oder der eigene Geburtstag. Es ist der Tag, an dem das Tal wieder vollzählig wird.

Rund 100 Tage waren die Tiere oben. "Oben" bedeutet hier nicht einfach auf einer Wiese am Hang, sondern im Hochgebirge, auf den Alpen. Man sagt im Allgäu übrigens konsequent "Alpe", niemals "Alm". Wer "Alm" sagt, outet sich sofort als Tourist oder schlimmer noch, als Bayer von jenseits des Lechs. Die Zeit dort oben ist harte Arbeit, keine Heidi-Romantik. Wenn die Hirten und ihre Helfer nun zurückkehren, sieht man ihnen die Strapazen an. Die Gesichter sind gegerbt von der Höhensonne, die Schritte fest, aber müde. Das Gebrüll der Tiere mischt sich mit den Kommandos der Treiber. Wer hier zuschaut, spürt schnell: Das ist kein inszeniertes Theaterstück. Das Vieh lässt sich nicht nach Drehbuch lenken. Wenn eine Kuh ausbricht, dann bricht sie aus. Da hilft kein Regisseur, da hilft nur ein beherzter Griff am Stock.

Die Hierarchie der Schellen

Was den Laien oft überrascht, ist die schiere Lautstärke. Man unterscheidet hier präzise. Es gibt Glocken, die sind gegossen und klingen hell, fast musikalisch. Und es gibt Schellen. Die sind aus Blech geschmiedet, oft riesig, und sie scheppern dumpf und gewaltig. Beim Abtrieb tragen die Tiere das "Zugschell", ein Geläut, das schwerer und lauter ist als das Weidegeläut. Der Grund ist simpel und archaisch: Der Lärm soll die bösen Geister vertreiben, die im Schatten der Berge lauern könnten. Je lauter, desto sicherer der Weg.

Spannend ist dabei die Beobachtung, dass die Tiere diesen Lärm offenbar brauchen. Sobald sie die großen Schellen umgehängt bekommen, ändert sich ihr Verhalten. Sie wissen: Jetzt geht es heim. Es entsteht eine Dynamik in der Herde, ein Zug nach vorne. Für das menschliche Ohr ist das Dröhnen von hunderten Tieren, die durch eine enge Dorfstraße ziehen, fast körperlich schmerzhaft. Der Boden bebt tatsächlich. Wer in der ersten Reihe steht, sollte standfest sein. Ein halbstarkes Rind, ein sogenannter "Schumpen", kennt keine Verkehrsregeln und auch keine Rücksicht auf teure Outdoor-Jacken.

Der Kranz: Mehr als nur Deko

Jeder wartet auf die Kranzkuh. Sie ist die unangefochtene Königin des Zuges. Aber nicht jede Alpe hat eine. Der Kopfschmuck, der "Kranz", ist an eine strikte Bedingung geknüpft: Der Alpsommer muss unfallfrei verlaufen sein. Kein Tier durfte abstürzen oder durch Blitzschlag sterben, und auch dem Hirten und seinen Leuten muss es gut ergangen sein. Nur dann wird "aufgekranzt". Passierte ein Unglück, kommen die Tiere schmucklos, "nackt", ins Tal. Das ist ein bedrückendes Bild, wenn eine Herde ohne den bunten Pomp einzieht. Die Stille im Publikum ist dann greifbar.

Der Kranz selbst ist ein kleines Kunstwerk der "Mächlar", der Bastler und Handwerker. Er besteht traditionell aus Zweigen, Bergblumen und bunten Bändern. Oft werden heute Seidenblumen verwendet, nicht aus Faulheit, sondern aus Pragmatismus – echte Alpenblumen stehen unter Naturschutz und würden den oft stundenlangen Marsch in der prallen Sonne oder im strömenden Regen kaum überstehen. Eingearbeitet ist fast immer ein Kreuz (Dank an den Herrgott) und ein Spiegel. Der Spiegel hat, ähnlich wie die Schellen, eine Abwehrfunktion: Der böse Geist soll sich darin sehen, erschrecken und das Weite suchen. Aberglaube und Frömmigkeit gehen hier, wie so oft in den Bergen, Hand in Hand.

Am Scheidplatz: Wo sich die Wege trennen

Der eigentliche Akt, der dem ganzen Spektakel seinen Namen gibt, findet meist etwas abseits des Festzeltes statt. Auf dem Scheidplatz wird das Vieh geschieden. Das bedeutet: Die Herde, die den Sommer über eine Einheit war, wird aufgelöst. Die Bauern holen ihre Tiere ab. Das klingt bürokratisch, ist aber ein logistisches Meisterwerk, das oft im Chaos zu versinken droht, aber nie tut. Der "Meister" der Alpe ruft die Besitzer auf, Tiere werden identifiziert, verladen oder zu Fuß in den heimischen Stall getrieben.

Hier zeigt sich der wahre Charakter der Veranstaltung. Es wird gefeilscht, diskutiert und begutachtet. Wie gut haben die Tiere angesetzt? Sind sie gesund? Die Bauern schauen kritisch. Für sie ist das Vieh Kapital. Der Tourist sieht süße Kälbchen, der Landwirt sieht Fleischansatz und Milchleistung. Diese Diskrepanz muss man aushalten können. Wer hierherkommt und Streichelzoo-Atmosphäre erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. Es riecht streng, es wird geschrien, und wer nicht aufpasst, steht knöcheltief im Fladen. Das gehört dazu. Es ist das Landleben ohne Instagram-Filter.

Bierzelt, Blasmusik und der "Maß"-stab

Sobald die Arbeit getan ist – und oft schon parallel dazu – verlagert sich das Geschehen ins Festzelt. Hier wird der Viehscheid zum Volksfest. Man muss diese Atmosphäre mögen. Es ist eng, es ist warm, und der Lärmpegel der Blasmusik konkurriert mit dem Stimmgewirr von tausenden Menschen. In Oberstdorf, beim größten Viehscheid der Region mit bis zu 30.000 Besuchern, nimmt das Dimensionen an, die fast schon an das Münchner Oktoberfest erinnern, nur eben rustikaler. In kleineren Orten wie Schöllang oder Wertach geht es familiärer zu.

Auf den Tischen stehen die Maßkrüge. Bier fließt in Strömen. Dazu gibt es "Scheidwurst", Hendl oder Kässpatzen. Wobei man bei den Kässpatzen vorsichtig sein sollte: In den großen Zelten kommen sie oft aus der Großküche und haben mit dem handgeschabten Original wenig zu tun. Besser ist es oft, sich an den kleinen Ständen draußen eine Wurstsemmel zu holen. Die Stimmung im Zelt ist eine Mischung aus Erleichterung (bei den Älplern) und Partylaune (bei den Gästen). Es wird geschunkelt, gelacht und ja, auch ordentlich getrunken. Wer empfindlich auf Betrunkene in Lederhosen reagiert, sollte das Zelt vielleicht gegen 16 Uhr verlassen. Aber wer das Allgäu verstehen will, muss zumindest eine Stunde hier drin verbracht haben. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Einheimischen und "Zuagroasten" (Zugereisten), zumindest solange das Bier reicht.

Kleine Ortskunde für Viehscheid-Hopper

Nicht jeder Viehscheid ist gleich. Man tut gut daran, sich vorher zu überlegen, was man sucht.

  • Oberstdorf: Der Gigant. Riesig, laut, professionell organisiert. Hier sieht man die meisten Tiere (über 1.000), aber auch die meisten Menschenmassen. Wer Trubel liebt, ist hier richtig.
  • Bad Hindelang: Sehr traditionsbewusst. Hier wird extrem viel Wert auf einheitliche Tracht und traditionelle Abläufe gelegt. Der Markt rundherum ist oft hochwertiger als anderswo, weniger Plastikspielzeug, mehr Handwerk.
  • Gunzesried: Hier gibt es eine Besonderheit – die Tiere müssen kurz vor dem Ziel an einem Steilhang hinunterlaufen. Das sieht spektakulär aus und fordert Mensch und Tier alles ab. Gunzesried gilt als einer der ältesten Viehscheide.
  • Immenstadt: Etwas städtischer geprägt, aber mit einem sehr schönen Marktplatz-Flair, wo die Tiere einziehen.
  • Die Kleinen (z.B. Thalkirchdorf, Haslach): Hier kennt jeder jeden. Man kommt schneller ins Gespräch. Die "Dichte" an echten Bauern ist höher, der Kitsch-Faktor geringer.

Überlebensstrategien für Besucher

Kommen wir zum Praktischen, denn ohne Plan endet der Tag im Frust. Regel Nummer eins: Früh aufstehen. Wer meint, um 10 Uhr gemütlich anreisen zu können, wird sein Auto vermutlich im nächsten Landkreis parken müssen. Die Straßen werden oft weiträumig abgesperrt. Shuttlebusse fahren, sind aber brechend voll. Wer clever ist, reist mit dem Zug an (z.B. nach Oberstdorf oder Immenstadt) oder nimmt das Fahrrad für die letzten Kilometer.

Kleidung ist ein Thema. Viele Touristen kaufen sich extra für diesen Tag ein "Trachten-Set" beim Discounter. Tu es nicht. Niemand erwartet, dass ein Norddeutscher in Lederhosen aufläuft. Jeans und Hemd sind völlig okay. Viel wichtiger ist das Schuhwerk. Feste Schuhe sind Pflicht. Keine weißen Sneaker. Wirklich nicht. Der Boden ist, wie erwähnt, eine Mischung aus allem, was eine Kuh so hinterlässt. Und wenn es regnet, verwandelt sich der Festplatz in eine Schlammschlacht, die Wacken Konkurrenz macht.

Und noch eine Warnung, die man gar nicht oft genug aussprechen kann: Fass die Tiere beim Einzug nicht an. Auch wenn sie "lieb schauen". Diese Kolosse sind gestresst, erschöpft und von den Schellen halb taub. Eine Kopfbewegung, und das Horn landet dort, wo es wehtut. Abstand halten ist der beste Respekt, den man den Älplern zollen kann.

Schreibe einen Kommentar
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu schreiben.
 
Du 

Bisher keine Kommentare
Entdecke mehr:
Nach oben scrollen