Die Scheidegger Wasserfälle sind eine der Hauptattraktionen im Westallgäu, und das aus gutem Grund. Nicht weit von der österreichischen Grenze entfernt stürzt sich der Rickenbach in einer beeindruckenden Performance über mehrere Felsstufen hinab. 2004 wurden die Wasserfälle in die Liste „Bayerns Schönste Geotope" aufgenommen, was ihnen eine Sonderstellung unter den bayerischen Naturwundern verschafft. Wer hier hinkommt, merkt schnell: Das ist kein Wald-und-Wiesen-Wasserfall, sondern ein Ort mit geologischer Geschichte und ordentlich Wucht.
Der Rickenbach entsteht aus dem Zusammenfluss von Riedbach und Scheibenbach und hat sich über Jahrtausende hinweg tief in das Gestein gegraben. Die größten Stufen liegen unterhalb des Spielgeländes, gut erschlossen durch Wege, Stege und mehrere Aussichtsplattformen. Von dort oben wirkt das Ganze fast theatralisch – tosend, gischtig, mit dieser Wucht, die man nur im unmittelbaren Kontakt mit dem Element Wasser erleben kann.
Geologie zum Anfassen: Nagelfluh und Sandstein
Warum gibt es hier überhaupt Wasserfälle? Die Antwort liegt – im wahrsten Sinne – im Gestein. Die Stufen wurden aus Sandstein und Nagelfluh der Oberen Süßwassermolasse gebildet. Nagelfluh ist im Allgäu weit verbreitet und besteht aus runden Geröllen, die durch Verwitterung wie Nagelköpfe aus dem Fels herausstehen. Dieses konglomeratische Gestein ist deutlich härter als die darunter liegenden Sand- und Mergelsteine, die das Wasser leichter auswäscht. Das Resultat: Stufen, über die sich der Bach spektakulär in die Tiefe stürzt.
Besonders spannend wird es auf dem Geo-Erlebnispfad, der 2021 im Zuge der Landesgartenschau neu gestaltet wurde. An mehreren Stationen gibt's Infos zur Entstehung der Wasserfälle, zur Molassezeit vor 15 bis 17 Millionen Jahren und zur Rolle des Rhein-Bodensee-Vorlandgletschers während der letzten Eiszeit. Als der Eisspiegel im ausgehenden Hochglazial, vor 18.000 bis 16.000 Jahren, langsam abfiel, konnte der Rickenbach nach Westen zur Leiblach fließen, wobei das starke Gefälle eine große Erosionskraft erzeugte. Mit anderen Worten: Der Gletscher hat den Hang steil gemacht, das Wasser den Rest erledigt.
Wer sich für solche Details erwärmen kann, wird hier gut bedient. An den Stationen lassen sich per App sogar virtuelle Inhalte abrufen – ein Rickenbach im Zeitraffer, fossile Tiere, die wieder zum Leben erwachen. Das ist was für größere Kinder und alle, die gerne mit dem Smartphone durch die Welt laufen.
Drei Wasserfälle, drei Perspektiven
Eigentlich sind's sogar drei Wasserfälle, die hier über die Felsstufen rauschen. Der erste, der Kleine Wasserfall, liegt gleich am Anfang der Runde – etwa fünf Meter hoch, aber mit einem besonderen Trick: Man kann hinter ihm durchlaufen. Ein schmaler Pfad führt unter dem Felsüberhang hindurch, während das Wasser direkt vor der Nase vorbeischießt. An manchen Tagen spürt man die Gischt bis in die Jacke, an anderen bleibt's trocken. Ich fand's trotzdem großartig – so nah kommt man Wasserfällen selten.
Danach wird's ernsthafter. Über gut 200 Stufen geht's hinab in die Rohrachschlucht. Der Abstieg zu den Aussichtspunkten über mehr als 200 Stufen ist nur zu Fuß möglich, Trittsicherheit und festes Schuhwerk werden empfohlen. Unterwegs öffnet sich immer wieder der Blick auf die bis zu 200 Meter tief eingeschnittene Schlucht, die als größtes Naturschutzgebiet im Landkreis Lindau geschützt ist. Mächtige Tannen stehen an den Hängen, stellenweise sind die Felswände steil und überhängend – wildromantisch trifft's gut.
Am Ende des Abstiegs wartet die große Nummer: 22 Meter stürzt der erste große Wasserfall in die Tiefe, der zweite folgt mit 18 Metern. Von den Aussichtsplattformen aus sieht man beide, und je nach Wasserstand donnert's ordentlich. Im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, ist die Show besonders eindrucksvoll. Im Sommer wird's ruhiger, aber die Kulisse bleibt beeindruckend.
Die Rohrachschlucht: Naturschutz und Artenvielfalt
Die Rohrachschlucht ist mehr als nur die Bühne für ein paar spektakuläre Wasserfälle. Das Gebiet umfasst 170 Hektar und wurde 1992 unter Naturschutz gestellt. Die Schlucht ist weitgehend unzugänglich, nur der obere Bereich bei den Wasserfällen ist für Besucher erschlossen. Darunter liegt ein urwaldartiges Naturparadies mit Nass- und Streuwiesen, Quellbereichen und steilen Mischwäldern aus Buchen und Tannen.
In den oberen Hängen dominieren diese Mischwälder, die durch ihre Naturnähe auffallen. Der Unterlauf des Rickenbachs liegt in der unzugänglichen steilen Rohrachschlucht, die Wälder hier sind sehr naturnah und stehen unter Naturschutz. Auf der österreichischen Seite, im Naturwaldreservat Rohrach, gibt es überhaupt keine forstwirtschaftlichen Eingriffe mehr. Was bedeutet: Die Natur macht, was sie will, und das sieht man.
Botaniker kommen hier auf ihre Kosten. Seltene Pflanzen wie Orchideen, Farne und verschiedene Moosarten gedeihen in den feuchten, schattigen Bereichen der Schlucht. Auch für Tiere ist die Rohrachschlucht ein wichtiger Rückzugsraum – Feuersalamander, Gelbbauchunke und zahlreiche Vogelarten leben hier. Mit etwas Glück hört man den Ruf des Schwarzspechts oder sieht einen Eisvogel über dem Bach.
Für Familien: Spielplatz, Märchenwald und hydraulischer Widder
Die Wasserfälle sind auch ein Familienziel – das merkt man schon am Eingang. Direkt hinter dem Kiosk liegt ein großer Wasserspielplatz mit Staudämmen, Wasserrädern und einer archimedischen Schraube. Kinder können hier nach Herzenslust plantschen, bauen und experimentieren. Das monotone Klopfen des hydraulischen Widders ist unüberhörbar und kündigt die innovative Technologie an, die ohne Strom funktioniert – ein faszinierendes Relikt alter Wasserkraft-Technik, das heute vor allem pädagogischen Wert hat.
Der Märchenwald ist eine neuere Ergänzung, angelegt im Zuge der Gartenschau 2021. Figuren wie Rapunzel sitzen am Wegesrand, und Kinder können per QR-Code Märchen abrufen und sich vorlesen lassen. Für Erwachsene vielleicht weniger spannend, aber die Kleinen mögen's.
Die Wege im oberen Bereich – Geo-Erlebnispfad und Märchenwald – sind gekiest und teilweise kinderwagengeeignet, zumindest bis zum ersten Wasserfall. Wer mit Kinderwagen unterwegs ist, sollte aber wissen: Der Abstieg zu den großen Wasserfällen ist tabu. Zu viele Stufen, zu steil. Also entweder das Kind in die Trage oder den Besuch verschieben, bis die Beine länger sind.
Praktische Hinweise: Eintritt, Öffnungszeiten, Anreise
Die Scheidegger Wasserfälle sind kostenpflichtig. Erwachsene zahlen 5 Euro, Kinder von 5 bis 13 Jahren 3,50 Euro. Es gibt Ermäßigungen mit der Bodensee Card Plus oder dem Allgäu-Walser-Pass. Für manche mag das Geld für ein Naturwunder ärgerlich sein – andererseits sind die Wege gut gepflegt, die Toiletten sauber, und es gibt einen Kiosk mit Snacks. Wer keine Lust auf Eintritt hat, findet im Umkreis auch kostenlose Wasserfälle, etwa den Hasenreuter Wasserfall, der auf einer Wanderung gut zu erreichen ist.
Von April bis Oktober sind die Wasserfälle täglich von 9 bis 19 Uhr geöffnet, letzter Einlass um 18 Uhr. Ab November von 9 bis 18 Uhr, letzter Einlass 17 Uhr. Bei starkem Regen, Sturm oder Glatteis wird das Gelände aus Sicherheitsgründen geschlossen – nachvollziehbar, wenn man an die steilen Stufen denkt.
Das Parken ist kostenlos, was im Allgäu nicht selbstverständlich ist. Mehrere Parkplätze liegen direkt am Eingang, von dort sind's nur wenige Meter zur Kasse. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man über die Linie 18 von Lindau oder Weiler, Haltestelle "Gretenmühle", von dort etwa drei Minuten zu Fuß.
Hunde sind übrigens erlaubt und müssen an der Leine geführt werden. Viele lassen ihre Vierbeiner im flachen Rickenbach beim ersten Wasserfall planschen – das klappt gut und sorgt für sichtlich entspannte Hunde.
Kombinationsmöglichkeiten: Skywalk, Reptilienzoo und Wanderungen
Scheidegg hat mehr zu bieten als nur die Wasserfälle. Direkt gegenüber liegt der Reptilienzoo – für Familien mit reptilienbegeisterten Kindern eine gute Kombination. Der Skywalk Allgäu, ein Baumwipfelpfad mit Aussichtsturm, liegt ebenfalls in der Nähe und bietet Panoramablicke über die Allgäuer Landschaft bis zu den Alpen.
Wer wandern will, findet rund um Scheidegg mehrere markierte Westallgäuer Wasserwege. Die Tour 1 führt auf knapp sieben Kilometern zu den Hasenreuter Wasserfällen, die frei zugänglich sind und sich gut als Ergänzung eignen. Tour 2 geht zum Waldsee, etwa zehn Kilometer lang. Und wer richtig Gas geben will, nimmt die 22 Kilometer lange Tour 31 ins Leiblachtal bis nach Österreich – dort wartet der Erlebnispfad Möggers mit weiteren Wasserfällen.
Auch die Scheidegger Highlight-Wanderung ist beliebt: fast 16 Kilometer, 342 Höhenmeter, etwa 4,5 Stunden Gehzeit. Unterwegs kommt man am Reptilienzoo, am Skywalk und an der Käserei Böserscheidegg vorbei, wo Bergkäse und Butter aus Heumilch verkostet werden können. Nicht die wildeste Wanderung, aber abwechslungsreich.
Lohnt sich der Besuch?
Kurz gesagt: Ja, wenn man in der Gegend ist. Die Scheidegger Wasserfälle sind keine alpine Sensation wie die Krimmler Wasserfälle, aber sie sind solide, gut erschlossen und geologisch interessant. Für Familien gibt's genug Programm, um einen halben Tag zu füllen. Für Wanderer sind sie ein guter Ausgangspunkt oder Zwischenstopp auf längeren Touren. Und für alle, die gerne in Schluchten steigen und sich an Gesteinsschichten erfreuen können, sowieso ein Pflichtbesuch.