Es gibt Tage im Juli, da flirrt die Hitze über dem Asphalt der Deutschen Alpenstraße, aber sobald man den Waldsaum betritt, ändert sich alles. Die Luft wird kühl, es riecht nach harzigem Fichtenholz und feuchtem Waldboden. Genau hier beginnt sie, die Suche nach dem, was Einheimische oft schlicht "Schwarzbeeren" nennen. Es ist keine Tätigkeit für Eilige. Wer Heidelbeeren sucht, braucht Geduld und einen Blick für Details. Manchmal steht man mitten in einem Feld aus kniehohem Grün, sieht aber vor lauter Blättern die Früchte nicht, bis man den Zweig sanft anhebt. Dann leuchten sie einem entgegen: klein, mattblau und prall gefüllt mit aromatischem Saft, der Zähne und Zunge für Stunden verräterisch färbt.
Im Allgäu und der angrenzenden Bodenseeregion hat das Beerenpflücken Tradition. Es ist eine Art sommerliches Ritual, fast meditativ, unterbrochen nur vom leisen "Plop", wenn die Beere im Eimer landet – oder im Mund. Doch bevor du losziehst, musst du dich entscheiden. Willst du das ursprüngliche Abenteuer, den intensiven, fast schon parfümierte Geschmack der wilden Waldheidelbeere (Vaccinium myrtillus), für den man sich bücken und manchmal auch durchs Unterholz schlagen muss? Oder bevorzugst du die komfortable Variante der Kulturheidelbeere (Vaccinium corymbosum), die auf Stehhöhe wächst, fingerdicke Früchte trägt und deren Fruchtfleisch hell bleibt, sodass man danach noch gesellschaftsfähig aussieht? Beide Varianten haben ihre Berechtigung. Und beide findest du hier reichlich, wenn du weißt, wo.
Die wilde Heidelbeere ist eine Diva. Sie mag es sauer, nicht zu nass, aber bloß nicht zu trocken, und sie braucht Licht, aber keinen Sonnenbrand. Das Westallgäu bietet geologisch gesehen genau diesen Mix. Die Böden sind oft sauer genug, die Fichtenwälder licht. Anders als im Tal, wo die Hitze die Reifung beschleunigt, lassen sich die wilden Verwandten in den Höhenlagen Zeit. Vor Mitte Juli braucht man den Eimer meist gar nicht erst aus dem Keller holen. Die Saison zieht sich dann oft bis tief in den August hinein, abhängig davon, wie viel Regen der Sommer gebracht hat.
Westallgäuer Wälder (Scheidegg / Lindenberg)
Nur einen Katzensprung, oder besser gesagt eine kurze Autofahrt von Lindau entfernt, ändert sich die Landschaft drastisch. Statt Obstplantagen dominieren hier sanfte Hügel und dichte Nutzwälder. Die Gegend rund um Scheidegg und Lindenberg ist klassisches Terrain für Sammler. Man muss gar nicht tief in die Wildnis vordringen. Oft säumen die Heidelbeersträucher die Ränder der Forstwege, dort, wo die Sonne den Boden erreicht, ohne ihn auszutrocknen.
Ein guter Ausgangspunkt sind die Wanderparkplätze entlang der Alpenstraße oder die Routen, die sich den Pfänder-Rücken hinaufziehen. Hier, in den Wirtschaftswäldern, ist das Pflücken für den Eigenbedarf gestattet. Halte Ausschau nach lichten Fichtenbeständen. Wenn der Boden federt und mit Moos bedeckt ist, stehen die Chancen gut. Einheimische nennen die Früchte hier auch oft "Moosbeeren", was ein direkter Hinweis auf ihren bevorzugten Untergrund ist. Manchmal muss man ein wenig abseits der ausgetretenen Pfade schauen, aber Vorsicht: Bleib in Sichtweite der Wege, um das Wild nicht zu stören.
Ganz wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen Nutzwald und Schutzgebiet. Das Westallgäu ist durchzogen von Mooren und Feuchtwiesen. Orte wie das Wurzacher Ried oder das Eriskircher Ried (unten am See) sind ökologische Heiligtümer. Dort gilt: Finger weg. Nicht nur, weil es verboten ist und teure Bußgelder drohen, sondern weil man die empfindliche Vegetation zertrampeln würde. In den normalen Forsten rund um Scheidegg hingegen kräht kein Hahn danach, wenn du mit einem blauen Mund aus dem Gebüsch kommst.
Pfänder-Höhenweg (Bregenz/Vorarlberg)
Geografisch gehört der Pfänder zu Vorarlberg, aber für Allgäuer und Bodensee-Anrainer ist er einfach der Hausberg. Man teilt sich den Blick und eben auch die Beeren. Wer sich die Mühe macht, die Höhenmeter zu überwinden (oder bequem die Bahn von Bregenz nimmt), findet auf dem Rücken des Berges Richtung Bregenzerwald ideale Bedingungen. Die Luft ist hier oben dünner, das Licht intensiver.
Entlang der Wanderwege auf dem Hochplateau wachsen die Sträucher oft in enormer Dichte. Hier greift das Prinzip des "Handraubs". Das klingt martialischer, als es ist. Es bedeutet lediglich, dass man kleine Mengen pflücken darf – genug für einen Kuchen oder den direkten Verzehr. Was hier oben absolut verpönt ist, ist der Einsatz von sogenannten "Heidelbeerkämmen" oder "Riffeln". Diese Werkzeuge, die aussehen wie kleine Schaufeln mit Metallzinken, kämmen die Sträucher gnadenlos durch. Dabei reißen sie nicht nur unreife Beeren, sondern oft auch Blätter und ganze Zweige ab. Das schadet der Pflanze nachhaltig. Wer mit so einem Ding erwischt wird, erntet böse Blicke und riskiert in manchen Gebieten Ärger mit dem Forstschutz. Handarbeit ist Ehrensache.
Der Fuchs und die Sicherheit
Man kommt nicht umhin, bei diesem Thema den Elefanten – oder besser gesagt den Fuchs – im Raum anzusprechen. Bei Waldheidelbeeren, also jenen, die wild und bodennah wachsen, geistert immer noch die Angst vor dem Fuchsbandwurm durch die Köpfe. Die statistische Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, ist extrem gering. Man müsste schon sehr viel Pech haben und eine kontaminierte Beere direkt in den Mund stecken. Dennoch ist die Sorge bei vielen tief verankert.
Mein Rat für einen entspannten Genuss: Wer nervös ist, sollte wilde Beeren einfach nicht roh essen. Die Lösung ist kulinarischer Natur. Verarbeite die Waldheidelbeeren zu Marmelade oder backe einen traditionellen "Heidelbeerdatschi" (einen Hefekuchen mit Streuseln). Sobald die Früchte über 60 Grad Celsius erhitzt werden, ist jeder potenzielle Erreger Geschichte. Der Geschmack der wilden Beere ist ohnehin so intensiv, dass er beim Backen oder Kochen erst richtig zur Geltung kommt. Kulturheidelbeeren von der Plantage hingegen wachsen hoch genug, dass kein Fuchs sein Geschäft an der Frucht verrichten kann. Die darfst du bedenkenlos direkt vom Strauch naschen.