Westallgäu & Hügelland

Scheidegg: Wasserfälle, Skywalk und der beste Blick zum Bodensee

Scheidegg ist die Sonnenterrasse über dem Bodensee und serviert dir Wasserfälle, während du auf dem Skywalk fast die Wolken kratzt. Ein Ort für Grenzgänger, die den Weitblick suchen und dabei gerne festen Boden unter den Füßen behalten.

Westallgäu & Hügelland  |  Natur & Landschaft
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Zwischenablage

Wenn unten am Bodensee im Spätherbst die Suppe hängt und man die Hand vor Augen kaum sieht, passiert auf der Deutschen Alpenstraße Richtung Scheidegg etwas fast Magisches. Kurve um Kurve schraubst du dich aus dem grauen Dunst bei Lindau nach oben, die Ohren ploppen vielleicht einmal leise, und plötzlich bricht das Licht durch. Auf rund 800 bis 1.000 Metern Höhe liegt Scheidegg. Es ist kein klassisches Bergdorf mit engen Tälern und drohenden Schattenhängen. Es ist ein Plateau, ein Balkon, der sich selbstbewusst gegen Süden und Westen reckt. Statistisch gesehen ist das hier einer der sonnigsten Orte der Bundesrepublik. Das merkst du nicht nur an der Statistik, sondern an der Vegetation und den Gesichtern der Leute, die hier ihren Kaffee trinken. Die Luft schmeckt anders, trockener und irgendwie gewaschen.

Man muss verstehen, dass das Westallgäu geologisch und mental eine Art Zwitterwesen ist. Es gehört zu Bayern, schielt aber kulturell und geografisch stark nach Vorarlberg und in die Schweiz rüber. Die Architektur trägt Schindeln, diese kleinen Holzschuppen an den Fassaden, die bei Nässe fast schwarz wirken und in der Sonne silbern glänzen. Alles wirkt ein bisschen offener, weniger eingekesselt als im Oberallgäu.

Der wilde Absturz: Die Scheidegger Wasserfälle

Wasser hat die Angewohnheit, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, und im Falle der Rickenbach-Schlucht hat es sich brachial durch den Fels gesägt. Die Scheidegger Wasserfälle gehören zu den "Bayerns schönsten Geotopen", was ein etwas trockener Titel für ein ziemlich nasses Spektakel ist. Du parkst das Auto oder steigst vom Bus und hörst es schon rauschen, bevor du überhaupt Eintritt bezahlt hast. Es gibt zwei Hauptstufen: Der obere Fall stürzt 22 Meter, der untere 18 Meter in die Tiefe.

Das Gestein hier nennt sich Nagelfluh. Die Einheimischen nennen es manchmal liebevoll "Herrgottsbeton". Wenn du genau hinsiehst, weißt du warum: Es sieht aus wie Flusskiesel, die in eine graue Masse eingebacken wurden. Geologisch ist das der Schutt der jungen Alpen, den Urzeitflüsse hier abgelagert haben. Spannend ist dabei, dass dieses Gestein zwar hart wirkt, aber Wasser und Frost permanent daran nagen. Felsstürze ändern das Gesicht der Fälle über die Jahrzehnte immer wieder minimal.

Der Abstieg in den Tobel ist nichts für kaputte Knie. Es geht steil bergab, Treppenstufen, die bei Nässe glitschig sein können. Unten angekommen, spürst du die Gischt im Gesicht. Es ist laut. An heißen Tagen ist das hier unten der beste Kühlschrank der Region. Ein kleiner Rundweg führt dich an den Kaskaden vorbei. Es gibt eine Aussichtskanzel, die direkt über dem Abgrund hängt – wer hier ein Selfie macht, sollte das Handy gut festhalten. Nebenbei: Direkt am Eingang zu den Fällen liegt ein Reptilienzoo. Die Kombination wirkt auf den ersten Blick seltsam willkürlich – Allgäuer Kuhwiesen und dann Pythons? –, aber für Familien ist es der Rettungsanker, wenn der Nachwuchs keine Lust mehr auf "nur Wasser" hat.

Über den Wipfeln: Der Skywalk Allgäu

Genug vom Abstieg, jetzt geht es rauf. Ein paar Kilometer weiter, Richtung Oberschwenden, ragt eine Stahlkonstruktion aus dem Wald, die aussieht, als hätte jemand eine Hängebrücke falsch zusammengebaut. Der Skywalk Allgäu ist einer dieser modernen Baumwipfelpfade, die in den letzten Jahren überall aus dem Boden geschossen sind, aber dieser hier hat ein Ass im Ärmel: die Lage. Die Hängebrückenkonstruktion ist gut 540 Meter lang und führt dich bis auf 40 Meter Höhe.

Das Besondere ist das Gefühl beim Gehen. Da es eine Hängebrückenkonstruktion ist, schwingt das Ding. Nicht gefährlich, aber spürbar. Wenn eine Schulklasse vor dir rennt, wippt der Boden unter deinen Sohlen im Takt. Mancher Besucher umklammert das Geländer dann doch etwas fester als geplant. Der Blick von der obersten Plattform des Aussichtsturms entschädigt für den leichten Adrenalinschub. Im Süden die Nagelfluhkette mit dem markanten Hochgrat, im Westen der Bodensee, der wie ein riesiger Spiegel im Tal liegt. Bei Föhnwetter siehst du bis zum Ulmer Münster – behaupten zumindest die Optimisten. Realistischer ist der Säntis in der Schweiz, der massiv und blockig den Horizont dominiert.

Unter dem Skywalk gibt es einen Barfußpfad und Geschicklichkeitsparcours. Das klingt nach Kinderkram, aber zieh mal die Schuhe aus und lauf über verschiedene Tannenzapfen und Matschlöcher. Es erdet ungemein, im wörtlichen Sinne. Der Wald hier oben ist ein Mischwald, gesund und kräftig. Es riecht nach Harz und feuchtem Moos.

Das Dorf, das Brot und die Kapellen

Zurück im Ort Scheidegg fällt eines auf: Es gibt auffällig viele Geschäfte und Restaurants, die mit "glutenfrei" werben. Das ist kein Hipster-Trend aus Berlin-Mitte, der sich hierher verirrt hat. Scheidegg ist offiziell ein Kurort für Menschen mit Zöliakie. Was für den normalen Touristen wie ein nettes Detail wirkt, ist für Betroffene der Himmel auf Erden. Du kannst hier beim Metzger, beim Bäcker und im Wirtshaus bestellen, ohne eine dreiseitige Allergenliste studieren zu müssen. Der Wirt weiß Bescheid. Das prägt die Gastfreundschaft: Man kümmert sich.

Kulturell tickt Scheidegg katholisch, aber mit einer Portion Pragmatismus. Die Pfarrkirche St. Gallus ist barock, wie es sich gehört, aber schau dir mal die ökumenische Hubertuskapelle im Wald an oder die moderne Klinikkapelle. Die Religion gehört hier zum Alltag, nicht nur zum Sonntag. Ein schöner Spaziergang ist der "Kapellenweg". Er verbindet die kleinen Gotteshäuser und Bildstöcke, die oft an den schönsten Aussichtspunkten stehen. Man muss nicht fromm sein, um die Stille dort zu schätzen. Oft steht eine Bank davor, die genau so ausgerichtet ist, dass du beim Sitzen direkt in die Berge schaust.

Grenzgänger am Kinberg

Wer sich die Beine vertreten will, ohne gleich eine alpine Ausrüstung zu brauchen, geht auf den Kinberg. Das ist der Hausberg, eher ein Hügelzug nördlich des Ortes. Von hier aus hast du den Postkartenblick zurück auf Scheidegg und die Alpenkulisse. Im Winter wird hier Langlauf betrieben, im Sommer wandert man durch Wiesen, die so grün sind, dass es fast in den Augen wehtut.

Du bist hier permanent in Grenznähe. Österreich, genauer Vorarlberg, ist nur einen Steinwurf entfernt. Früher war das hier Schmugglergebiet. Kaffee, Zigaretten, Nylonstrümpfe – alles ging bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze. Man nennt die Zöllner hier im Dialekt teils noch "Kommii" (von Kommissar). Heute merkst du die Grenze nur noch daran, dass sich der Asphaltbelag ändert oder die Wegweiser eine andere Farbe und Schriftart bekommen. Ein beliebter Ausflug führt hinüber auf den Pfänder. Der Bergrücken zieht sich von Bregenz hoch. Wer fit ist, läuft von Scheidegg bis zur Pfänderspitze. Das zieht sich, ist aber landschaftlich großes Kino, weil du permanent zwischen dem Blick in den Bregenzerwald und hinunter zum See pendelst.

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