Es ist oft neblig hier, wenn man morgens ankommt. Isny liegt in einer Senke, ein bisschen wie in einer Schüssel, in der sich die Geschichte gesammelt hat und nicht mehr abfließen wollte. Während andere Orte im Allgäu sich längst dem totalen Tourismus-Diktat mit Geranienbalkonen und Holzschnitzereien unterworfen haben, wirkt Isny fast ein wenig stur. Spröde. Die Stadtmauer umschließt den historischen Kern noch immer wie ein Korsett, das man einfach nicht lockern will. Wer durch das Wassertor oder das Espantor tritt, merkt schnell: Das hier ist kein Freilichtmuseum für Sommerfrischler, sondern eine gewachsene "Freie Reichsstadt", die ihren Eigensinn über Jahrhunderte kultiviert hat.
Man muss sich Zeit lassen, um den Rhythmus dieser Stadt zu verstehen. Die Straßen sind nicht breit, die Plätze nicht riesig, alles wirkt verdichtet. Einheimische grüßen nicht überschwänglich, sie nicken. Das reicht. Dieser Minimalismus ist Programm, und er zieht sich wie ein roter – oder besser gesagt: schwarzer – Faden durch die Historie der Stadt. Es riecht hier nach feuchtem Stein und oft, wenn der Wind ungünstig steht, ein bisschen nach Landwirtschaft, was den urbanen Anspruch der Stadtmauern immer wieder lustvoll konterkariert.
Der Schatz im Turm: Die Predigerbibliothek
Wer "Schwarze Kunst" hört, denkt vielleicht an Magie, aber in Isny denkt man an Tinte. Viel Tinte. Der Weg zur bedeutendsten Sehenswürdigkeit führt nicht durch ein goldverziertes Portal, sondern eine steile, enge Wendeltreppe hinauf in den Turm der Nikolaikirche. Man muss den Kopf einziehen. Oben angekommen, in der Predigerbibliothek, bleibt die Zeit nicht einfach stehen; sie scheint sich in den Regalen versteckt zu haben. Es ist staubig, das Licht fällt spärlich durch die kleinen Fenster, und es ist still. Totenstill.
Hier lagert das intellektuelle Rüstzeug der Reformation. Was diesen Ort so unfassbar macht, ist die Authentizität. Die Bücher stehen nicht hinter Panzerglas in einem klimatisierten Museumsbunker in Berlin oder München. Sie stehen dort, wo sie seit dem 15. und 16. Jahrhundert stehen. Und sie liegen an der Kette. Wortwörtlich. Die "Kettenbücher" sind an den massiven Holzpulten befestigt, damit früher kein übereifriger Gelehrter das kostbare Wissen einfach unter der Kutte verschwinden lassen konnte. Prädikanten, also die Prediger der Stadt, haben hier ihre Argumente gegen den katholischen Klerus geschärft.
Wenn du genau hinsiehst, erkennst du auf den Einbänden der Folianten Reste von Fingerabdrücken, Schmutzränder von hunderten Händen. Das Papier wellt sich leicht. Es ist ein haptisches Erlebnis, auch wenn man nichts anfassen darf. Der Geruch ist eine Mischung aus altem Leder, Vanillin (der chemische Zerfallsprozess von Papier) und kaltem Mauerwerk. Man spürt förmlich, wie hier oben, über den Dächern der Stadt, theologische Schlachten geschlagen wurden. Die Bibliothek ist ein Monument des Wortes, nicht des Bildes. Eine Strenge, die Isny prägt.
Otl Aicher: Die zweite Revolution in Schwarz-Weiß
Einen Zeitsprung von 400 Jahren später, und wieder geht es um Tinte, wieder geht es um Reduktion. In den 1970er Jahren tat Isny etwas Unerhörtes. Während andere Orte mit bunten Prospekten voller lachender Kühe warben, engagierte die Stadt Otl Aicher. Der Mann, der das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in München geprägt hatte (die berühmten Strichmännchen), sollte Isny ein Gesicht geben.
Aicher kam, sah und strich die Farbe. "Isny schwarz auf weiß" war sein Credo. Er reduzierte die Landschaft auf Striche. Eine Tanne war nur noch ein schwarzes Dreieck auf weißem Grund. Die Hügel eine Linie. Das war kein Marketing, das war eine Provokation. Die Einheimischen schäumten vor Wut. Kein blaues Himmelszelt? Keine grünen Matten? Nein. Aicher zwang die Stadt, ehrlich zu sich selbst zu sein. Isny ist im Winter oft schwarz-weiß, der Schnee und die dunklen Wälder. Diese Ehrlichkeit schmerzte.
Heute ist man stolz auf dieses Erbe, auch wenn es lange gedauert hat. Im "aichermagazin" im Kurhaus am Park kannst du diese Werke sehen. Es ist faszinierend, wie aktuell diese Grafiken wirken. Nichts daran ist altbacken. Es ist Design, das nicht gefallen will, sondern funktionieren muss. Genau wie die Predigerbibliothek. Information vor Dekoration. Wer durch die Ausstellung geht, versteht plötzlich, warum diese Stadt so anders wirkt. Es ist dieser Verzicht auf Schnörkel. Bolzgerade, wie der Allgäuer sagt.
Architektonisches Hickhack: Katholisch gegen Evangelisch
Wieder zurück auf dem Pflaster der Altstadt fällt ein bauliches Kuriosum auf, das typisch für süddeutsche Reichsstädte ist, hier aber besonders drastisch ausfällt. Die Nikolaikirche (evangelisch) und die Kirche St. Georg und Jakobus (katholisch, ehemaliges Kloster) stehen sich fast auf den Füßen. Sie kleben beinahe aneinander, getrennt nur durch wenige Meter und Jahrhunderte theologischen Streits.
Die Nikolaikirche ist – passend zur Bibliothek – eher nüchtern. Eine dreischiffige Pfeilerbasilika, die ihre romanischen Wurzeln nicht leugnet, aber gotisch überformt wurde. Hier zählt das Wort. Geht man aber rüber zu den Katholiken, explodiert der Barock. Rokoko, Stuck, Gold, Heiligenfiguren, die sich in Ekstase winden. Das Kloster war reich, die Reichsstadt war stolz. Dieser Kontrast auf engstem Raum ist fast schon komisch. Man kann sich bildlich vorstellen, wie die Mönche und die Bürger sich früher misstrauisch über den Kirchplatz beäugt haben.
Spannend ist dabei, dass das Klostergebäude heute teilweise als Schloss der Fürsten von Quadt zu Wykradt und Isny dient. Ein Teil ist zugänglich (die Kunsthalle), ein anderer privat. Das Adelsgeschlecht ist präsent, aber diskret. Man protzt nicht.
Ein Spaziergang auf der Kante
Wer den Kopf voll hat von Theologie und Grafikdesign, muss laufen. Die Stadtmauer ist dafür perfekt. Nicht überall erhalten, aber an entscheidenden Stellen begehbar. Der Wehrgang beim Diebsturm bietet einen Blick, der die Struktur der Stadt offenlegt. Man sieht die roten Ziegeldächer, die engen Gassen, die "ovale" Form der mittelalterlichen Anlage.
Der Diebsturm selbst, am südwestlichen Eck der Befestigung, trägt seinen Namen nicht umsonst. Er diente als Gefängnis. Wenn man davorsteht, fröstelt es einen leicht, auch im Sommer. Die Mauern sind dick, abweisend. Ein Stück weiter der Blaserturm. Er war das Auge der Stadt. Von hier hielt der Türmer Ausschau nach Feuer oder Feinden. Nachts ist er oft beleuchtet, ein markanter Fingerzeig in den dunklen Allgäuer Himmel.
Unterhalb der Mauer zieht sich der Graben entlang, heute eine Grünanlage. Hier joggen die Isnyer, führen ihre Hunde aus oder sitzen auf Bänken. Es ist der weiche Gürtel um den harten Kern aus Stein. Kontraste eben.
Essen, Trinken und das "Gschwend"
Kulinarisch ist Isny bodenständig, aber mit Anspruch. Man bekommt hier natürlich Kässpätzle. Das gehört zur Grundversorgung. Aber man sollte nach den "Seelen" Ausschau halten, diesem länglichen, kümmelbestreuten Weißbrotgebäck, das außen knusprig und innen weich und feucht sein muss. Eine gute Seele zu finden, ist fast eine religiöse Angelegenheit.
Für eine Pause empfiehlt sich der "Brauereigasthof Engel". Eine Institution. Man sitzt in holzgetäfelten Stuben, es ist laut, es ist eng, und das Bier kommt schnell. Hier trifft man auch auf das echte Isnyer Idiom. Der Dialekt ist eine harte Variante des Alemannischen, oft kurz angebunden. Wenn jemand sagt, er mache etwas "gschwend", meint er "schnell" oder "kurz". Wobei "gschwend" im Allgäu ein dehnbarer Begriff ist. Es kann fünf Minuten dauern oder den ganzen Nachmittag, je nachdem, wen man trifft.
Interessant ist auch das "Haldenhof" Café oder ähnliche kleine Läden, die oft Produkte aus der Region anbieten. Isny ist Bio-Pionierstadt. Lange bevor es Mode wurde, gab es hier schon ein starkes Bewusstsein für ökologische Landwirtschaft. Auch das passt ins Bild: Kein Chichi, sondern Qualität. Man isst, was da ist, und das soll gut sein.