Es ist kurz nach acht Uhr morgens im Kurpark von Bad Wörishofen. Der Rasen glänzt feucht, der Tau hängt schwer in den Halmen, und die Luft riecht nach einer Mischung aus feuchter Erde und frisch gemähtem Gras. Ich stehe vor einer hölzernen Bank und tue das, was man in der Öffentlichkeit normalerweise vermeidet: Ich ziehe mich aus. Zumindest untenrum. Socken und Schuhe verschwinden im Rucksack. Der erste Schritt ins Gras ist ein kleiner Schock. Kalt. Richtig kalt. Meine Füße, die sonst in gepolsterten Turnschuhen ein verweichlichtes Dasein fristen, senden sofortige Protestsignale an das Gehirn. Doch genau darum geht es hier. Ich bin nicht zum Spazieren hier, sondern zum Kneippen. Und zwar dort, wo alles angefangen hat. Bad Wörishofen ist nicht irgendein Kurort im Unterallgäu, es ist das Mekka der Wassertreter, der Vatikan der Güsse. Hier wirkte Sebastian Kneipp über 40 Jahre lang, und sein Geist – oder zumindest seine Lehre – scheint hinter jeder Hecke zu lauern.
Man könnte meinen, Wellness müsse Geld kosten. Viel Geld für weiche Bademäntel und ätherische Öle. Aber hier im Kurpark gilt das Prinzip: Die besten Dinge im Leben sind umsonst. Auf über 163.000 Quadratmetern erstreckt sich eine Anlage, die man getrost als riesiges Freiluft-Fitnessstudio für das Immunsystem bezeichnen kann. Eintritt? Null Euro. Das Einzige, was man mitbringen muss, ist ein Handtuch und ein bisschen Überwindung. Der Untergrund unter meinen Sohlen wechselt jetzt von weichem Gras zu festem Kies. Autsch. Jeder kleine Stein drückt sich in die Fußsohle, eine Art Zwangsmassage, die man sich nicht ausgesucht hat, die aber seltsam belebend wirkt.
Der Barfußpfad: Eine lekure für die Sinne
Der Barfußweg im Kurpark ist so etwas wie die Einstiegsdroge für Kneipp-Neulinge. Er ist rund eineinhalb Kilometer lang und führt durch verschiedenste Untergründe. Es ist erstaunlich, wie wenig wir unsere Füße im Alltag eigentlich spüren. Eingezwängt in Leder oder Synthetik, sind sie nur Transportmittel. Hier werden sie zum Tastorgan. Ich laufe über Rindenmulch, der sich warm und weich anfühlt, fast wie ein Teppich. Dann folgt Sand, der zwischen den Zehen rieselt und sofort Urlaubsgefühle weckt, auch wenn das Meer Hunderte Kilometer entfernt ist. Spannend ist dabei, dass der Körper sofort reagiert. Man geht automatisch vorsichtiger, bewusster. Der Blick ist auf den Boden gerichtet, die Haltung verändert sich. Man "latscht" nicht, man schreitet.
Dann kommt das Schlammbecken. Eine Familie vor mir zögert. Der Vater macht Witze über Moorleichen, die Kinder quietschen. Ich steige hinein. Der Schlamm ist kühl, zäh und schmatzt bei jedem Schritt. Er quillt zwischen den Zehen hoch. Das Gefühl ist zugleich eklig und grandios. Es erdet im wahrsten Sinne des Wortes. Wer hier mit sauberen Füßen rauskommt, hat was falsch gemacht. Zum Glück gibt es gleich daneben eine Waschstation. Das kalte Wasser spült den Dreck weg, und zurück bleibt eine Haut, die sich rosig und durchblutet anfühlt. Ein erstes, leichtes Kribbeln setzt ein. Die Durchblutung kommt in Gang. Sebastian Kneipp hätte wohl anerkennend genickt, auch wenn er vermutlich strenger geschaut hätte als die lachenden Touristen um mich herum.
Storchengang und Kälteschock
Nun aber zum Herzstück: das Wassertretbecken. Es gibt im Park mehrere davon, aber die Prinzipien sind immer gleich. Es sieht harmlos aus. Ein gefliestes Becken, ein Geländer in der Mitte, klares Wasser. Doch der Schein trügt. Das Wasser hat hier, direkt aus den Quellen gespeist, oft kaum mehr als 8 oder 10 Grad. Bevor ich hineinsteige, beobachte ich einen älteren Herrn. Er macht das mit einer Routine, die beeindruckt. Hände locker auf dem Rücken verschränkt, der Blick entspannt in die Ferne, zieht er seine Runden wie ein Uhrwerk. Er macht den "Storchengang". Das bedeutet: Bei jedem Schritt den Fuß komplett aus dem Wasser heben. Die Kälte soll nur kurz wirken, an der Luft erwärmt sich der Fuß wieder leicht, dann taucht er erneut ein. Dieser Wechselreiz ist das Geheimnis.
Ich bin dran. Der erste Fuß taucht ein. Es ist nicht einfach nur kalt, es beißt. Es fühlt sich an, als würden tausend kleine Nadeln in die Haut stechen. Der Impuls, sofort wieder rauszuspringen, ist riesig. Aber ich zwinge mich weiter. Ein Schritt, Fuß raus, nächster Schritt. Nach zehn Sekunden fängt es an wehzutun. Nach zwanzig Sekunden spüre ich meine Füße kaum noch. Die Regel besagt: Nur so lange, wie es angenehm ist, maximal aber eine Minute. Angenehm ist hier ein dehnbarer Begriff. Ich schaffe vielleicht dreißig Sekunden, dann flüchte ich auf den trockenen Rand. Und jetzt passiert das Wunder. Kaum ist das Wasser abgestreift (nicht abgetrocknet, nur das Wasser mit den Händen abstreifen!), strömt eine intensive Wärme in die Beine. Die Gefäße, die sich durch den Kältereiz zusammengezogen haben, weiten sich nun, das Blut schießt zurück. Die Füße glühen regelrecht. Das ist der berühmte Kneipp-Effekt.
Mehr als nur Wasser: Die fünf Säulen
Während meine Füße langsam wieder Normaltemperatur erreichen und angenehm pulsieren, schlendere ich weiter durch den Park. Bad Wörishofen hat verstanden, dass Kneipp mehr war als nur ein "Wasserdoktor". Sein Konzept basierte auf fünf Säulen: Wasser, Bewegung, Ernährung, Kräuter und innere Ordnung. All das findet man hier im Park wieder. Es gibt einen wunderschönen Kräutergarten, der nach dem Vorbild historischer Klostergärten angelegt ist. Es duftet intensiv nach Rosmarin, Thymian und Salbei. Bienen summen träge in der Mittagssonne, die mittlerweile den Tau vertrieben hat. Tafeln erklären, welches Kraut gegen welches Wehwehchen hilft. Arnika für die Prellungen, Baldrian für die Nerven. Es ist Apotheke zum Anfassen und Riechen.
Die "Innere Ordnung" ist vielleicht der schwierigste Teil in unserer hektischen Zeit. Aber der Kurpark macht es einem leicht. Es gibt keine laute Musik, keine blinkenden Reklamen. Nur alte Bäume, gepflegte Blumenbeete und viele Bänke. Man sieht Menschen, die einfach nur sitzen. Nichts tun. In einer Welt, in der jede Minute optimiert wird, ist das fast schon eine subversive Tätigkeit. Ich setze mich auf eine Bank im Rosengarten. Über 6.000 Rosenstöcke blühen hier im Sommer. Jetzt, im Herbstlicht, sind es vor allem die Farben der Blätter, die beruhigen. Ein Eichhörnchen huscht über den Weg, stoppt kurz, schaut mich an und flitzt den nächsten Stamm hoch. Stress hat hier Hausverbot.
Der Kneippsche Espresso
Einheimische schwören auf das "Armbad" als Muntermacher für zwischendurch. Es wird oft als der "Kneippsche Espresso" bezeichnet. Natürlich muss ich das auch testen. Ein steinernes Becken, gefüllt mit kaltem Wasser. Die Ärmel werden hochgekrempelt. Man taucht beide Arme bis zur Mitte der Oberarme ein, zählt langsam bis dreißig oder wartet, bis der Kälteschmerz einsetzt. Ich beuge mich über das Becken. Das Wasser ist genauso gnadenlos kalt wie beim Wassertreten. Aber der Effekt ist anders. Es macht sofort wach. Der Herzschlag beruhigt sich, der Kopf wird klar. Es ist erstaunlich simpel. Statt Koffein, das nervös macht, gibt es hier einen Kältekick, der fokussiert. Eine ältere Dame neben mir, die ihre Ärmel akkurat gefaltet hat, lächelt mich mitleidig an, als ich beim Eintauchen scharf die Luft einziehe. "Des wird scho no", sagt sie in breitem Schwäbisch. "Jeden Tag a bisserl, dann gspürt ma's nimmer." Sie hat vermutlich recht.
Warum das Original funktioniert
Was den Kurpark in Bad Wörishofen von modernen Wellness-Anlagen unterscheidet, ist die Authentizität. Nichts wirkt hier künstlich inszeniert. Die Anlagen sind funktional, solide, fast ein bisschen spröde in ihrer Schlichtheit. Aber genau das macht den Reiz aus. Es geht nicht um Show, es geht um Wirkung. Sebastian Kneipp war ein Pragmatiker. Er heilte seine eigene Tuberkulose durch kurze Bäder in der eiskalten Donau. Er wusste, dass der Körper Reize braucht, um stark zu bleiben. In einer Zeit, in der wir meist bei konstanten 21 Grad in Innenräumen sitzen, fehlt uns dieser Reiz. Hier im Park holt man ihn sich zurück.
Es gibt übrigens auch "Gradieranlagen" im Park, riesige Wände aus Schwarzdornreisig, über die salzhaltiges Wasser rieselt. Die Luft dort ist wie an der Nordsee, gut für die Atemwege. Ich atme tief ein. Es schmeckt salzig und frisch. Man kann hier Stunden verbringen, einfach nur mit Gehen, Atmen und Wassertreten. Und das Schönste ist die Demokratie des Ortes. Hier trifft der wohlhabende Kurgast auf den Rucksacktouristen, die junge Familie auf den Rentner. Alle ziehen die Schuhe aus, alle krempeln die Hosen hoch. Vor dem kalten Wasser sind alle gleich.