Wer von der Autobahn A96 abfährt und sich durch die eher nüchternen Gewerbegebiete Richtung Zentrum schraubt, ahnt erstmal wenig von der Dichte an Geschichte, die hier auf wenigen Quadratkilometern wartet. Mindelheim, etwa 30 Kilometer östlich von Memmingen gelegen, wirkt auf den ersten Blick wie eine funktionierende bayerische Kleinstadt. Da gibt es den Supermarkt, die Tankstelle, den hektischen Kreisverkehr. Doch sobald man eines der massiven Stadttore durchschreitet, ändert sich die Akustik. Der Lärm der Umgehungsstraße bleibt draußen, das Kopfsteinpflaster übernimmt den Rhythmus. Man landet nicht in einem Freilichtmuseum, wo abends die Bürgersteige hochgeklappt werden, sondern in einem gewachsenen Organismus.
Das Zentrum ist der Marienplatz. Hier stehen die Häuserfronten in Pastellfarben Spalier, als hätten sie sich für ein Gruppenfoto aufgestellt. Was auffällt: Es ist sauber, ja, aber nicht steril. An den Fassaden bröckelt hie und da der Putz ganz leicht, was dem Ganzen eine sympathische Patina verleiht. Man sieht Einheimische, die ihre Einkäufe erledigen, und nicht nur Touristen, die Selfies machen. Es riecht morgens nach frischen Brezen und abends, wenn der Wind ungünstig steht, auch mal ein bisschen nach Landwirtschaft von den umliegenden Feldern. Das gehört dazu.
Der Schatten des Georg von Frundsberg
Man kommt in dieser Stadt an einem Namen nicht vorbei: Georg von Frundsberg. Der "Vater der Landsknechte" wurde hier auf der Mindelburg geboren und starb auch hier. Er ist der lokale Hero, obwohl sein Handwerk – das Kriegführen im 16. Jahrhundert – aus heutiger Sicht eher eine blutige Angelegenheit war. Sein bulliges Konterfei begegnet einem als Statue, auf Bildern und alle drei Jahre ganz real, wenn die Stadt beim "Frundsbergfest" komplett durchdreht. Dann tauschen Bankangestellte ihre Anzüge gegen historische Gewänder, und in den Gassen wird gelagert, gezecht und marschiert. Wenn gerade kein Fest ist, spürt man die militärische Vergangenheit trotzdem. Die Stadtmauer ist fast vollständig erhalten, ein Ring aus Stein, der früher Schutz bot und heute vor allem gut aussieht.
Interessant ist das Einlasstor. Früher war das die letzte Hoffnung für Zuspätkommer. Wer es nach Torschluss noch in die Stadt schaffen wollte, musste hier Eintritt zahlen. Heute steht das Tor offen, aber wenn man davor steht und den massiven Steinbogen betrachtet, kann man sich fast vorstellen, wie man dort im Regen steht und hofft, dass der Wächter einen guten Tag hat.
Hoch hinaus auf die Burg
Ein Muss, auch wenn das Wort in Reiseführern oft überstrapaziert wird, ist der Spaziergang zur Mindelburg. Sie thront südlich der Altstadt auf einem Hügel. Der Weg dorthin ist steil genug, um den Puls ein wenig zu beschleunigen, aber kurz genug, um nicht als Wanderung zu gelten. Oben angekommen, steht man vor einer Anlage, die mehr Festung als Prunkschloss ist. Hier wurde nicht repräsentiert, hier wurde gewohnt und verteidigt. Der Innenhof ist oft ruhig, fast verschlafen. Es gibt eine Burgwirtschaft, wo man im Sommer unter Bäumen sitzen kann. Das Schnitzel ist solide, das Bier kalt – keine Hochküche, aber ehrliche Verpflegung.
Der eigentliche Grund für den Aufstieg ist jedoch der Blick vom Bergfried. Bei Föhnwetter – und das ist im Allgäu ja so eine Sache, entweder man hat Glück oder man sieht eine graue Suppe – zeichnet sich die Alpenkette am Horizont messerscharf ab. Man hat das Gefühl, die Berge seien greifbar nah, obwohl sie noch eine gute Autostunde entfernt liegen. Gleichzeitig schaut man hinunter auf die roten Ziegeldächer der Altstadt. Von hier oben wirkt Mindelheim fast wie ein Spielzeugmodell. Man sieht die Struktur der Stadt, die Gräben, die Türme. Besonders markant sticht der "Fünfknopfturm" hervor, das Wahrzeichen der Stadt, dessen Dachkonstruktion tatsächlich aussieht, als hätte ein Riese fünf Knöpfe darauf platziert.
Eine Stadt, die tickt
Jetzt wird es speziell. Mindelheim beherbergt in der ehemaligen Silvesterkapelle – an sich schon ein architektonisches Kleinod mit einem unglaublich hohen, schlanken Turm – das Schwäbische Turmuhrenmuseum. Das klingt im ersten Moment vielleicht trocken, ist aber technisch faszinierend. Es ist eines der reichhaltigsten Museen dieser Art weltweit. Man betritt den Raum und hört es sofort: Ein vielstimmiges Ticken, Schnarren und Surren. Hier ist die Zeit nicht digital und lautlos, sondern Mechanik pur. Zahnräder aus Eisen, schwere Gewichte, Pendel, die träge hin und her schwingen.
Wer sich für Technik begeistern kann, bleibt hier länger hängen als geplant. Man begreift, wie mühsam es früher war, die Zeit zu messen und wie viel Ingenieurskunst in diesen alten Eisenkästen steckt. Die älteste Uhr stammt aus dem Jahr 1562. Manchmal riecht es leicht nach Öl und altem Metall. Es ist ein Museum zum Zuhören. Der Kontrast zur draußen hektischen Welt, in der jeder auf sein Smartphone starrt, um die Uhrzeit zu checken, könnte größer kaum sein.
Barocke Pracht und stille Winkel
Zurück in der Altstadt lohnt sich ein Blick in die Kirchen. Die Stadtpfarrkirche St. Stephan dominiert mit ihrem Turm das Stadtbild, aber die eigentliche Überraschung ist oft die Jesuitenkirche "Mariä Verkündigung". Von außen eher schlicht, entfaltet sie innen diesen typischen süddeutschen Barock-Zauber. Stuck, Gold, Putten – das volle Programm. Man muss nicht gläubig sein, um die Raumwirkung zu schätzen. Es ist hell, fast festlich. Die Jesuiten haben hier nicht nur gebetet, sondern auch das Krippenwesen gefördert. Folgerichtig gibt es auch ein Krippenmuseum. Das ist nicht nur was für Weihnachten. Die Detailverliebtheit, mit der hier biblische Szenen nachgebaut wurden, grenzt an Besessenheit. Winzige Figuren, exotische Tiere, ganze Landschaften im Miniformat.
Wer dem Barock entfliehen will, sucht sich die kleinen Gassen abseits der Maximilianstraße. Die Gerberstraße zum Beispiel. Hier fließt die Mindel, oder besser gesagt, ein Arm von ihr. Das Wasser ist meist klar, Forellen stehen in der Strömung. Es ist der ruhige Teil der Stadt, wo man auf einer Bank sitzen und einfach mal nichts tun kann. "Hock di her", würde der Allgäuer vielleicht sagen, wenn er redselig ist. Wobei der Unterallgäuer an sich eine gewisse Grundskepsis pflegt, die aber meist nach dem zweiten Bier in Herzlichkeit umschlägt.
Kultur jenseits des Mainstreams
Es wäre falsch, Mindelheim nur auf seine Historie zu reduzieren. Die Stadt leistet sich ein Kulturprogramm, das für ihre Größe (rund 16.000 Einwohner) beachtlich ist. Das Jazz-Festival "Jazz Isch" holt internationale Größen in das eher beschauliche Städtchen. Dann wird der Stadtsaal oder der Jazzkeller zum Club. Dieser Kontrast – draußen die Türme des 15. Jahrhunderts, drinnen Saxophon-Soli und Avantgarde – macht den Reiz aus. Es zeigt, dass man hier nicht in der Vergangenheit stecken geblieben ist.
Auch die Museenlandschaft ist breiter als gedacht. Neben Uhren und Krippen gibt es das Textilmuseum (Modegeschichte, die man anfassen möchte) und das Südschwäbische Archäologiemuseum. Letzteres ist spannend, weil es zeigt, dass hier schon die Römer und Alamannen siedelten, lange bevor Herr Frundsberg sein Schwert schwang. Es sind oft Fundstücke aus der direkten Umgebung, was die Geschichte greifbarer macht als Exponate aus fernen Ländern.
Praktisches und Kulinarisches
Essen in Mindelheim ist bodenständig. Man findet die klassischen Gasthäuser, wo der Schweinebraten mit Knödeln serviert wird und die Portionen so bemessen sind, dass man danach eigentlich einen Mittagsschlaf braucht. Aber es gibt auch Italiener, Asiaten und nette Cafés. Ein Tipp ist es, einfach mal in eine der Bäckereien zu gehen und eine "Seele" zu kaufen. Das ist ein kümmelbestreutes, langes Gebäck, typisch für die Region (Oberschwaben/Allgäu). Außen knusprig, innen weich und salzig. Perfekt als Snack auf die Hand.
Die Anreise ist unkompliziert. Der Bahnhof liegt zwar ein Stückchen vom Zentrum entfernt (etwa 10-15 Minuten zu Fuß), aber die Anbindung an Memmingen und München ist getaktet. Wer mit dem Auto kommt, findet Parkplätze vor den Toren. Innerhalb der Mauern ist das Parken oft zeitbegrenzt oder den Anwohnern vorbehalten – und die Gassen sind teils eng. Man tut sich keinen Gefallen, da mit einem großen SUV durchzuzirkeln.
Übernachten kann man zentral in historischen Hotels oder etwas günstiger in Pensionen am Stadtrand. Wer den Mix aus Ruhe und Erreichbarkeit sucht, ist hier gut aufgehoben. Mindelheim ist ein idealer "Basecamp"-Ort. Man ist schnell in den Alpen, schnell am Ammersee, schnell im Legoland (für Familien relevant) – aber abends kehrt man in eine Stadt zurück, die nach 22 Uhr zur Ruhe kommt.