Kaufbeuren macht es einem nicht sofort leicht. Wer von der B12 kommt oder aus dem Zug steigt, sieht erst einmal viel Alltägliches. Gewerbegebiete, Wohnblöcke, das übliche Einerlei deutscher Kleinstädte. Aber man muss nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, genauer gesagt: durch eines der Tore treten. Dann ändert sich die Tonlage schlagartig. Die Altstadt liegt wie eine gut verpackte Praline im Tal der Wertach, umschlossen von einer Stadtmauer, die ihren Namen auch heute noch verdient. Es ist kein potemkinsches Dorf für Touristenbusse, sondern eine Stadt, in der gearbeitet, gelebt und gelegentlich auch ordentlich gefeiert wird.
Der Asphalt weicht Kopfsteinpflaster, das Geräusch der Bundesstraße verstummt fast gänzlich und wird durch das Läuten von Kirchenglocken ersetzt, die hier gefühlt öfter schlagen als anderswo. Die Luft in den Gassen steht an heißen Sommertagen ein wenig, vermischt mit dem Geruch von warmem Stein und, wenn man Glück hat, frisch gebackenem Brot aus einer der verbliebenen Bäckereien. Kaufbeuren ist eine freie Reichsstadt gewesen, und dieses stolze, fast ein wenig trotzige Selbstverständnis hängt auch heute noch zwischen den Giebeln der Bürgerhäuser.
Der Wächter mit den fünf Knöpfen
Man kann über Kaufbeuren nicht sprechen, ohne sofort beim Wahrzeichen zu landen. Der Fünfknopfturm ist so etwas wie der steinerne Promi der Stadt. Er ragt an der Ostseite der Wehrmauer auf und sieht exakt so aus, wie ein Kind einen Turm malen würde, wenn es besonders viel Fantasie hat. Ein zentrales Zeltdach, vier kleine Ecktürmchen – fertig ist die Ikone. Er ist Teil der Stadtmauer, die hier um 1420 aus Tuffstein hochgezogen wurde. Tuff ist ein dankbares Material, porös, aber zäh, genau wie die Mentalität der Allgäuer.
Wer die steilen Wege zum Turm hinaufsteigt, merkt schnell, dass das hier früher kein Spaziergang war. Es war bitterer Ernst. Die Stadt musste sich verteidigen, und der Blick vom Wehrgang diente nicht der Aussicht, sondern der Vorsicht. Heute ist der Wehrgang begehbar, und man sollte das tun. Der Blick über die Ziegeldächer ist grandios. Man sieht, wie eng die Häuser ineinander verschachtelt sind. Keine geplante Symmetrie, sondern organisches Wachstum über Jahrhunderte. Ein Flickenteppich aus Dachziegeln, unterbrochen von kleinen Dachgärten, in denen im Sommer die Geranien um die Wette leuchten. Interessant ist dabei, dass der Fünfknopfturm bis 2014 bewohnt war. Ja, da oben lebte jemand. Kein Burgfräulein, sondern städtische Angestellte oder Künstler. Heizung? Eher spartanisch. Ausblick? Unbezahlbar.
Sankt Martin: Gotik mit Bodenhaftung
Mitten im Zentrum, am Kirchplatz, hockt die Stadtpfarrkirche St. Martin. Sie dominiert den Raum, ohne ihn zu erdrücken. Eine Basilika, deren Baugeschichte sich über das ganze 15. Jahrhundert zog. Wenn man die schwere Tür aufdrückt, empfängt einen diese typische kühle Kirchenluft, die nach Weihrauch und altem Holz riecht. Das Innere ist überraschend hell für eine Kirche dieser Epoche. Was sofort auffällt, sind die Schnitzwerke. Jörg Lederer, ein lokaler Meister der Spätgotik, hat hier seine Spuren hinterlassen. Die Figuren schauen einen nicht entrückt an, sondern wirken fast schon menschlich, geerdet.
Draußen an der Außenwand findet man Grabplatten und Epitaphe, die Geschichten von wohlhabenden Patriziern erzählen. Man liest Namen, die auch heute noch im Telefonbuch stehen könnten. Das ist das Schöne an Kaufbeuren: Die Kontinuität bricht selten ab. Gegenüber der Kirche steht das Rathaus, ein wuchtiger Bau, der Ende des 19. Jahrhunderts in seiner heutigen Form entstand. Er wirkt fast ein wenig zu groß für den Platz, als wollte er sagen: Seht her, wir sind wer. Hier regiert der Stadtrat, und man kann sich gut vorstellen, wie früher hier Markt gehalten wurde, laut, dreckig und lebendig.
Das Phänomen Crescentia: Heilige im Akkord
Jetzt wird es spirituell, aber auf eine sehr greifbare Weise. Kaufbeuren ist untrennbar mit Maria Crescentia Höss verbunden. Sie lebte im 17. und 18. Jahrhundert und wurde 2001 heiliggesprochen. Ihr Kloster, das Crescentiakloster, liegt etwas oberhalb der Altstadt. Der Weg dorthin führt durch die Klosterberggasse. Es geht bergauf, und das Kopfsteinpflaster ist hier besonders unerbittlich zu dünnen Sohlen.
Das Kloster selbst ist ein Ort der Stille, der in krassem Kontrast zum Trubel der Kaiser-Max-Straße steht. Crescentia war keine weltfremde Mystikerin, die nur Visionen hatte. Sie war eine Macherin, eine kluge Ökonomin, die das Kloster vor dem Ruin rettete. Diese Mischung aus Frömmigkeit und Geschäftstüchtigkeit imponiert den Kaufbeurern bis heute. Im Klosterladen gibt es alles, was das Pilgerherz begehrt, von Kerzen bis zum Kräuterlikör. Man mag das für Kitsch halten, aber es gehört dazu. Der "Halbmond" im Titel unseres Artikels bezieht sich metaphorisch auf ihren Namen (Crescentia – die Wachsende, oft mit dem Mond assoziiert) und ihren immer noch wachsenden Einfluss auf die Stadtidentität.
Ein Besuch in der Gedenkstätte ist Pflicht, auch für Atheisten. Man sieht ihre Zelle, ihre Werkzeuge. Es ist bedrückend eng und zeigt, wie hart das Leben damals war. Kein romantischer Klischee-Kitsch, sondern harte Realität. Wenn man dann wieder heraustritt in den Klostergarten, atmet man automatisch tiefer durch. Der Blick von hier oben auf die Stadtmauer und die Dächer hat fast etwas Meditatives. Hier oben versteht man, warum Menschen an Orten wie diesem Ruhe suchen.
Hexenwahn und finstere Ecken
Doch Kaufbeuren war nicht immer nur heilig. Wo Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. Der Hexenturm zeugt davon. Er ist Teil der Wehranlage und diente als Gefängnis. Im 16. und 17. Jahrhundert, als der Wahnsinn der Hexenverfolgung durch Europa fegte, blieb auch das Allgäu nicht verschont. Wobei man fairerweise sagen muss: In der freien Reichsstadt Kaufbeuren ging es vergleichsweise moderat zu, wenn man das überhaupt so nennen darf. Die städtische Oberschicht war gebildet und oft skeptischer gegenüber dem Pöbel-Wahn als die Landbevölkerung.
Trotzdem, wenn man vor dem Hexenturm steht, läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken. Die Mauern sind dick, die Fensterluken winzig. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich das Elend der Inhaftierten vorzustellen. Es ist gut, dass die Stadt diese Orte nicht versteckt, sondern sie als Teil des historischen Erbes markiert. Ein Spaziergang entlang der Mauer bei Dämmerung hat durchaus etwas Schauriges. Die Schatten werden lang, und die modernen Straßenlaternen schaffen es nicht ganz, das Mittelalter zu vertreiben.
Das Tänzelfest: Wenn der Kaiser kommt
Jedes Jahr im Juli dreht Kaufbeuren komplett durch. Im positivsten Sinne. Das Tänzelfest ist angeblich das älteste historische Kinderfest Bayerns. Der Legende nach besuchte Kaiser Maximilian I. die Stadt und sah den Kindern beim Tanzen zu. Daraus haben die Kaufbeurer ein Spektakel gemacht, das seinesgleichen sucht. Die ganze Stadt wirft sich in "Häs" (historische Gewänder). Und wir reden hier nicht von billigen Polyester-Kostümen aus dem Internetversand. Nein, hier wird Leinen getragen, Wolle, Filz. Das Zeug kratzt, es ist schwer, und es sieht verdammt echt aus.
Das Herzstück ist das Lagerleben. Rund um die Altstadtmauer werden Zeltlager aufgebaut. Landsknechte, Marketenderinnen, Handwerker. Es riecht nach offenem Holzfeuer, nach gebratenem Schwein und Sauerkraut. Man sitzt auf strohbedeckten Ballen oder groben Holzbänken. Bier wird aus Steinkrügen getrunken, nicht aus Glas. Die Atmosphäre ist dicht, fast berauschend. Es ist laut, Trommler ziehen durch die Gassen, Fanfarenzüge schmettern ihre Signale gegen die Hauswände. Wer hier als "Zivilist" in Jeans und T-Shirt durchläuft, fühlt sich fast nackt oder zumindest als Zeitreisender am falschen Ort.
Was dieses Fest so besonders macht, ist die Ernsthaftigkeit, mit der die Kinder ihre Rollen spielen. Der kleine Kaiser Maximilian reitet mit einer Würde durch die Straßen, als hätte er nie etwas anderes getan. Es ist kein Disney-Land, es ist gelebtes Brauchtum. Man spürt, dass die Einheimischen das für sich tun, nicht primär für die Touristen. Wenn man als Fremder freundlich fragt, darf man sich aber gerne dazusetzen. Die Kaufbeurer sind beim Tänzelfest in einem Ausnahmezustand der Geselligkeit. Ein "Prost" hier, ein Schwatz da. Man kommt ins Gespräch, schneller als einem vielleicht lieb ist.
Kulinarik und Kurioses
Essen muss der Mensch auch. Die Allgäuer Küche ist bekanntermaßen nichts für Kalorienzähler. Kässpatzen sind der Standard, und in Kaufbeuren bekommt man sie in den Wirtshäusern der Altstadt in exzellenter Qualität. Wichtig: Es muss Bergkäse und Romadur drin sein, damit es ordentlich "stinkt" und schmeckt. Dazu Röstzwiebeln, die im Fett schwimmen. Wer danach noch Hunger hat, hat etwas falsch gemacht. Ein Tipp ist das "Dicke Hund", ein altes Wirtshaus mit Geschichte, oder die kleinen Cafés rund um den Neptunbrunnen.
Apropos Neptunbrunnen: Der steht auf dem Kaiser-Max-Platz und wirkt mit seinen barocken Figuren fast ein wenig italienisch. Er ist der Treffpunkt schlechthin. "Wir sehen uns am Neptun", heißt es. Hier flanieren die Leute, essen Eis, und im Sommer sitzen die Studenten der Finanzhochschule auf dem Rand und lassen die Füße baumeln. Ja, Kaufbeuren ist auch Studentenstadt, wenn auch nur für angehende Finanzbeamte. Das bringt ein wenig junges Blut in die alten Mauern.
Noch eine Kuriosität am Rande: Kaufbeuren hat eine extrem hohe Dichte an Eishockey-Fans. Der ESV Kaufbeuren ist Kult. Wenn Heimspiel ist, pilgern die Massen in rot-gelben Schals zum Stadion. Das passt eigentlich gar nicht zum mittelalterlichen Bild, ist aber genau der Bruch, der die Stadt sympathisch macht. Hier trifft Tradition auf beinharte Schlagschüsse.
Praktische Tipps für den Entdecker
Kaufbeuren lässt sich wunderbar zu Fuß erkunden. Das Auto sollte man in einem der Parkhäuser am Ring stehen lassen; in der Altstadt ist es nur ein Klotz am Bein. Wer fotografieren will: Das beste Licht hat man am späten Nachmittag, wenn die Sonne die Fassaden der Kaiser-Max-Straße in warmes Gold taucht. Für den Rundgang auf der Stadtmauer sollte man trittfest sein, High Heels sind hier die falsche Wahl, es sei denn, man steht auf Knöchelbrüche.
Museen gibt es auch: Das Stadtmuseum ist modern und didaktisch gut aufbereitet, das Isergebirgs-Museum im Stadtteil Neugablonz erzählt eine ganz andere Geschichte – die der Vertriebenen, die nach dem Krieg kamen und ihre Glasbläser-Kunst mitbrachten. Das ist eigentlich einen eigenen Ausflug wert, denn Neugablonz ist der krasse architektonische und kulturelle Gegenentwurf zur Altstadt. Aber das heben wir uns für einen anderen Tag auf.