Westallgäu & Hügelland

Wangen im Allgäu: Dolce Vita in der schönsten Altstadt des Allgäus

Wangen im Allgäu serviert Geschichte nicht im Museum, sondern zum Cappuccino in der Sonne. Hier ist das Mittelalter lebendig, bunt und überraschend entspannt.

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Zwischenablage

Du stehst vor dem Frauentor und musst den Kopf ziemlich weit in den Nacken legen. Das Ding ist massiv. Es ist der Eingang in eine Stadt, die sich selbst nicht ganz so ernst nimmt, wie ihre dicken Mauern vermuten lassen. Wenn man durch den Torbogen läuft, verändert sich die Akustik. Der Lärm der Bundesstraße bleibt draußen, drinnen klickt vielleicht gerade ein Paar Absätze auf dem Kopfsteinpflaster oder ein Fahrrad rattert vorbei. Wangen macht es einem leicht, anzukommen. Es riecht hier oft nach einer Mischung aus frisch gemahlenem Kaffee und, wenn der Wind ungünstig steht, ganz leicht nach Landwirtschaft. Aber genau das ist der Punkt. Es ist keine sterile Puppenstube.

Man nennt die Stadt oft die schönste im Allgäu. Das ist so ein Satz, den man in jedem Reiseführer über jede zweite Stadt liest. Aber hier hat man beim Schlendern durch die Herrenstraße tatsächlich das Gefühl, dass die Architektur nicht nur zum Anschauen da ist, sondern benutzt wird. Die Fassaden sind bunt, manche fast schon grell in Ockergelb oder sattem Rot, und Fensterläden klappern, wenn es zieht. Es wirkt fast italienisch, dieses Spiel mit den Farben. Vielleicht kommt daher dieser ständige Vergleich mit dem Dolce Vita, obwohl wir hier geographisch eindeutig im Württembergischen Allgäu stecken und der Bodensee noch gut zwanzig Kilometer weg ist.

Der Fidelisbäck: Kult statt Kitsch

Wenn du Hunger hast, geh nicht in das erstbeste Restaurant am Marktplatz. Geh zum Fidelisbäck. Das ist keine Empfehlung, das ist fast schon eine Anweisung. Wer Wangen verstehen will, muss sich in diese Bäckerei quetschen. Es ist laut, es ist eng, und es ist herrlich unkompliziert. Hier gibt es den Leberkäs, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Er wird im Ofen gebacken, bis er eine fast schwarze Kruste hat. Das sieht im ersten Moment aus wie verbrannt, schmeckt aber intensiv und würzig.

Das Besondere ist die Sitzordnung. Man setzt sich einfach dazu. Wenn am langen Holztisch noch ein Platz frei ist, fragst du kurz und rutschst rein. Hier sitzen der Banker im Anzug und der Handwerker im Blaumann nebeneinander und kauen auf einer "Seele" rum. Das ist dieses längliche, salzige Hefegebäck mit Kümmel, das im Allgäu Grundnahrungsmittel ist. Man kommt ins Gespräch oder man schweigt sich an, beides ist völlig in Ordnung. Es hat was von einem bayerischen Biergarten, nur eben drinnen und mit Backwaren. Die Tradition wird hier hochgehalten, aber nicht auf diese verstaubte Art, sondern weil es einfach funktioniert.

Wasseradern und Eselsohren

Überall in der Stadt plätschert es. Brunnen sind im Allgäu nichts Ungewöhnliches, aber Wangen hat eine fast obsessive Beziehung zu Wasser. Besonders skurril ist der Antoniusbrunnen direkt beim Rathaus, den viele auch nur den "Spuckbrunnen" nennen. Die Bronzefiguren spucken Wasserstrahlen quer über das Becken. Das ist so ein Detail, wo man merkt: Hier hatte jemand Humor. Im Sommer rennen Kinder kreischend drumherum und versuchen, nicht nass zu werden, was natürlich nie klappt.

Viel wichtiger für das Stadtbild ist aber der Stadtbach. Er fließt offen durch die Gassen, eingefasst von Steinen, vorbei an Cafés und Wohnhäusern. Früher war das der Abwasserkanal und Energielieferant für die Mühlen, heute ist es die natürliche Klimaanlage der Stadt. An heißen Tagen kannst du beobachten, wie Leute ihre Schuhe ausziehen und die Füße ins Wasser hängen, während sie ihr Eis essen. Das Wasser ist kalt, richtig kalt. Es kommt aus der Argen und bringt die Frische der Berge direkt in die Fußgängerzone.

Am Ende der Bachgasse stößt man auf die Eselmühle. Ein wuchtiges Gebäude, das heute das städtische Museum beherbergt. Der Name kommt daher, dass früher Esel das Getreide schleppen mussten. Heute stehen drinnen alte mechanische Musikinstrumente. Das klingt im ersten Moment vielleicht speziell, aber wenn diese riesigen Orchestrien loslegen und Lieder aus den 20er Jahren scheppern, hat das einen ganz eigenen Charme. Es ist laut, mechanisch und faszinierend präzise.

Freie Reichsstadt: Stolz in Stein gemeißelt

Man darf nicht vergessen, dass Wangen lange Zeit eine Freie Reichsstadt war. Das bedeutete Unabhängigkeit, direkten Draht zum Kaiser und vor allem: Geld. Man sieht diesen Wohlstand an jeder Ecke, aber er protzt nicht. Er ist solide. Das Rathaus ist so ein Beispiel. Es steht da wie eine Festung, aber mit barocken Schnörkeln, die dem Ganzen die Schwere nehmen. Nebenan die Stadtpfarrkirche St. Martin. Geh rein, auch wenn du mit Kirchen nichts am Hut hast. Die gotischen Netzrippengewölbe sind architektonisch ziemlich abgefahren und die Stille drinnen ist ein harter Kontrast zum Trubel draußen.

Die Stadtmauer ist übrigens noch zu großen Teilen erhalten. Man kann zwar nicht oben drauf herumlaufen wie in Nördlingen oder Rothenburg, aber man kann an ihr entlang spazieren. Es gibt Ecken, da wächst Efeu meterhoch die Steine hoch, und dahinter ragen alte Obstbäume aus privaten Gärten. Das ist dieser Mix aus Wehrhaftigkeit und Idylle, der Wangen ausmacht. Man fühlt sich sicher, aber nicht eingesperrt.

Der Mittwoch ist heilig

Ein echter Tipp ist der Wochenmarkt am Mittwoch. Das ist kein touristischer Show-Markt, sondern hier kaufen die Einheimischen ein. Es gibt Bergkäse, der so intensiv riecht, dass man ihn drei Straßen weiter noch wahrnimmt, frisches Gemüse von den Bauern aus der Umgebung und Blumen. Viel zu viele Blumen. Die Wangener lieben Blumen. Die Stadtgärtnerei leistet hier Arbeit, die fast schon an Kunst grenzt. Im Sommer hängen an fast jedem Laternenpfahl und Brückengeländer üppige Geranien oder Petunien.

Zwischen den Ständen hört man das typische westallgäuerische Idiom. Es ist ein bisschen breiter, ein bisschen alemannischer als im Oberallgäu. Man "schwätzt" miteinander. Das Tempo ist gemächlich. Niemand hetzt. Wenn du Zeit hast, stell dich mit einem Kaffee an den Rand und beobachte einfach nur. Du wirst sehen, dass hier das Prinzip "Leben und leben lassen" gilt.

Kultur abseits des Mainstreams

Wangen hat auch eine intellektuelle Seite, die man leicht übersehen kann, wenn man nur auf die hübschen Fassaden starrt. Im Badhaus, einem der ältesten Badehäuser, die man in Deutschland noch finden kann, gibt es Ausstellungen. Früher wurde hier geschröpft und gebadet, heute hängt moderne Kunst an den Wänden. Die Kombination aus alten Holzbalken und zeitgenössischer Malerei ist spannend. Manchmal knarzt der Boden so laut, dass man zusammenzuckt.

Und dann gibt es da noch diese Verbindung zur Literatur. Joseph von Eichendorffs Urenkel lebte hier und hat ein Archiv hinterlassen. Das interessiert vielleicht nicht jeden, aber es zeigt, dass Wangen eben mehr ist als nur eine Kulisse für Instagram-Fotos. Es gibt Lesungen in kleinen Buchhandlungen und im Sommer Theateraufführungen draußen. Die Kulturszene ist klein, aber sie ist wach.

Raus ins Grüne: Die Argen

Wenn dir die Mauern doch mal zu eng werden, geh an die Argen. Der Fluss ist die Lebensader der Region. Seit der Landesgartenschau 2024 sind die Wege am Ufer noch besser ausgebaut. Hier treffen sich Jogger, Hundebesitzer und Leute, die einfach nur auf einer Bank sitzen und ins Wasser starren wollen. Die Argen ist ein wilder Fluss, kein begradigter Kanal. Nach starkem Regen ist sie braun und reißend, an Sommertagen klar und friedlich.

Hier draußen merkt man erst, wie grün das Westallgäu eigentlich ist. Die Hügel drumherum sind sanft, nicht schroff wie in den Alpen weiter südlich. Es ist eine Landschaft, die einen nicht erschlägt, sondern beruhigt. Man kann stundenlang laufen, ohne dass es langweilig wird, weil hinter jeder Kurve ein neuer Blick auf die Stadt oder die Alpenkette wartet.

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